Autopilot #46: Mit Vollgas in die Leseecke
Die Konzeptautos der CES in Las Vegas: Niklas Maak über rollende Wohnzimmer und das „E“ als Statussymbol.

Der Futurismus endet in der Sitzgarnitur: Auf der Elektronikmesse CES wurden Ideen vorgestellt, die das Auto für immer verändern sollen – es tauchen lauter neue Marken auf, die Faraday Future und Lucid Motors heißen. Aber was sagen uns die Zukunftsfahrzeuge, die dort gezeigt wurden?
Vor kurzem hat Oxfam eine Studie vorgestellt, derzufolge das Vermögen der reichsten acht Männer der Welt – es sind alles Männer – so groß ist wie das der ärmsten 3,5 Milliarden Menschen zusammen. An dieser Behauptung wurde viel kritisiert, vor allem wirtschaftsfreundliche Medien erklärten, so genau könne man das ja gar nicht errechnen, aber trotz aller neunmalklugen Relativierungen kann man sagen, dass schon auf der Straße die Einkommensunterschiede immer dramatischer sichtbar werden. Auf der einen Seite nimmt die Zahl derer zu, die sich gar kein Auto leisten können, auf der anderen Seite gibt es immer mehr Luxusfahrzeuge, und unter deren Fahrern gibt es zwei Gruppen: Die Liebhaber des klassisch röhrenden Vollgas-Auspufflärm-Achtzylinderverbrennungsmotors und die Avantgardisten, die ihren Nachbarn oder sich selbst mit einem sauschnellen, futuristischen Elektroauto beeindrucken wollen.
Während es außer dem Renault Zoe immer noch kein einigermaßen ansehnliches, alltagstaugliches und bezahlbares Elektroauto für Normalbürger gibt, entsteht ein großes Angebot an Luxus-E-Autos, die die Ausmaße von Landyachten annehmen. „E“ zu fahren ist ein Statussymbol geworden, mit dem man zeigt, dass man vermögend und verantwortungsvoll ist – und was in Las Vegas gezeigt wurde, war eine Prestigeschlacht um das gewagteste und rasanteste Elektrostatussymbol.
Vor kurzem wunderte man sich noch über einen Tesla, der seine bis zu sieben Insassen mit 700 PS in drei Sekunden auf hundert Stundenkilometer katapultierte. Jetzt stellte die neue, aus China finanzierte, kalifornische Automarke Lucid Motors eine Luxuslimousine mit genau 1000 PS und gigantischen First-Class-Rücksitzen vor. Und die komplett chinesische Automarke Faraday Future präsentierte einen 1065 PS starken Wagen, den FF91, der in nur 2,3 Sekunden auf hundert schießt und dinosaurische Ausmaße von weit über 5,2 Metern Länge besitzt.
Optisch folgen beide der typischen Form für Elektro-Limousinen – vorn, wo mal der Motor war, sind sie eher kurz, dafür haben sie eine fließende Dachlinie und extrem langen Radstand, statt Außenspiegel gibt es Kameras, statt Scheinwerfern und Rückleuchten futuristisch glimmende Leuchtbänder, deren Musterung aussieht wie erhitzte Klapperschlangen. Dazu kommen 36 Sensoren, zehn hochauflösende Kameras, 13 Radargeräte, zwölf Ultraschallsensoren sowie ein 3D-Lidar-Sensor, die alle zusammen autonomes Fahren möglich machen sollen.
Das konzeptionell Deprimierende an diesen aufwendigen Wundermaschinen ist nur, dass alle technischen und ästhetischen Anstrengungen letztendlich nur dem ungestörten Weiterdösen dienen: Der Fahrersitz ist nicht die attraktivste Position in diesem Wagen. Man will die Verantwortung delegieren, man will gefahren und geführt werden und hinten in die First-Class-Massagesitze sinken, ein bisschen googeln, ein bisschen chatten, ein bisschen Filme schauen, ein wenig schlummern und massiert werden, das Auto soll selbst die ganzen anstrengenden Entscheidungen treffen.
Die schlagendsten Bilder für diesen Rückzug aus der Welt der Wachheit und des Selbstlenkertums, für die endgültige Delegation der Verantwortung des Menschen an die Maschine, vom autonomen Fahrer an den Algorithmus, liefern in Las Vegas die Autohersteller BMW und Rinspeed. Im Armaturenbrett des Rinspeed Oasis prangt dort, wo sich einst Anzeigen für Öldruck und Kühlwassertemperatur fanden, ein Bonsai-Kleingarten. BMW zeigt eine Studie, in der der Fahrersitz nur noch ein dürres Rudiment ist und das Lenkrad ein verbogenes Ding, das sich selbst ins Cockpit zurückzieht.
Alle Aufmerksamkeit widmeten die Designer der Rückbank, die zur Couch mutiert und auf der Kuscheldecken, Häkelkissen – und ein ganzer Stapel Bücher zu finden sind. Hundert Jahre nach Gründung der Bayerischen Motorenwerke ist das Auto zum rollenden Wohnzimmer mutiert, und der neue Futurismus des autonomen Fahrens hat, was für ein rührender Antagonismus, nur ein Ziel: Dass man, während das Auto autonom vor sich hin rollt, in Decken eingewickelt echte, analoge Papierbücher lesen kann. Das Auto wird zur Fortsetzung der heimischen Sitzecke in den öffentlichen Raum. Man muss das Wohnzimmer nicht mal mehr verlassen, wenn man auf die Straße geht: Das ist die erstaunliche und etwas deprimierende Botschaft, die von der CES in die Welt hinausgeschickt wurde. Und dass ausgerechnet das gute alte gedruckte Buch, dem man vor wenigen Jahren noch den baldigen Tod durch Tablets und E-Books voraussagte, zum Symbol der Zukunft des Autofahrens werden könnte - davon haben nicht mal die allergrößten Optimisten auf der Frankfurter Buchmesse zu träumen gewagt.
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Niklas Maak ist Redakteur bei der F.A.Z.
Autopilot von Niklas Maak
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