Autopilot #50: Die Stunde der glatten Nasen
IAA 2017: Niklas Maak über wohnliche Konzepte, rollende Realität und die Rettung vor einer klanglosen Zukunft.

Auf der IAA dominieren Elektroautos, die so sanft und still summend in die Gegend schauen, als könnten sie niemals schummeln – und das Auto kommt, jedenfalls als Objekt, das der Mensch selbst steuert, an sein Ende. Aber was kommt dann?
Bei der Internationalen Auto-Ausstellung, die seit 1953 in Frankfurt am Main stattfindet, hat man schon viel erlebt: 1968 setzen Demonstranten Autos als Symbole der herrschenden Bourgeoisie in Brand. Dann kam der Ölschock, der die Wagen empfindlich schrumpfen und die sogenannten Traumwagen eingehen ließ. Dann kamen die Sicherheitsfanatiker und verlangten Überrollbügel. Dann wurde das Auto für den sauren Regen verantwortlich gemacht. Irgendwie hat es all diese Beutelungen überlebt. Jetzt aber wird es ernst. Die Dieselaffäre, das drohende Fahrverbot, die rhapsodisch wiederholte Behauptung, die sogenannten jungen Leute würden Autos gar nicht mehr fahren wollen – all das sind Bedrohungen von außen, die heftig sind. Das Auto als klassisches Kulturprodukt demontieren jetzt aber auch die Hersteller selbst: Selten hat man so viele Autos auf einer Messe gesehen, bei denen man sich nicht ans Lenkrad setzen kann – weil sie keins mehr haben. Die IAA 2017 ist der Ort, an dem jenes Objekt verschwindet, das nicht nur ein Symbol für das Auto, sondern für die gesamte Moderne und ihr Versprechen der Selbstermächtigung schlechthin war. In den neuen Studien verkümmert das Lenkrad zusehends, wird eckig, löst sich in Notgriffe auf, zieht sich ins Armaturenbrett zurück. Damit verschwindet auch das Versprechen, dass das Auto zu einem so durchschlagenden Erfolg machte: Das Individuum übernimmt das Steuer, lenkt selbst, ist nicht mehr auf Schaffner und Fahrpläne, auf Lenkung durch höhere Stellen angewiesen.
Der Audi Aicon, der sich so schreibt, wie man in Ingolstadt „Icon“ schreiben muss, damit man es auch richtig ausspricht, ist so ein Auto ohne Lenkrad. Vom Fahrersitz sieht man keine Lenkung, sondern einen Screen der mit dem Blick aus dem Fenster konkurriert. Auch der Renault Symbioz – eine mit Marmor eingerichtete Studie für einen Wagen, der ins Wohnzimmer gefahren werden kann und dort die Sitzgruppe ersetzt – verschmilzt Immobilie und Mobilität zugunsten der Immobilie.
Das Auto ist nun wirklich bald am Ende, es wird eine Art ferngesteuertes Möbelstück. Das Motorgeräusch, neben den Rädern und dem Lenkrad deutlichstes Erkennungsmerkmal eines Autos, ist bei den neuen Studien schon weg. Der Tesla-Schock hat die Autobauer erreicht: Alle versprechen eine elektrifizierte Zukunft, und die verändert nicht nur den Sound, sondern auch das Autodesign massiv: Fast ein Jahrhundert lang bestand ein Auto aus – in dieser Reihenfolge – einer Kiste für den Motor, einer für die Fahrgäste und einer fürs Gepäck. Weil jetzt der Antrieb unter den Mitfahrern in den Batterien liegt, ändert sich das Aussehen grundlegend, hin zum Cab-Forward-Design: langer Radstand, darüber eine verglaste Kuppel für die Leute. Bei vielen Wagen weiß man fast nicht, in welche Richtung sie fahren, aber weil die Autos eh bald autonom fahren sollen, muss der zum Passagier eines Algorithmus degradierte Fahrer das auch gar nicht mehr wissen; die Zukunft der Mobilität liegt in der Immobilisierung des Fahrers.
Dass die optische Rhetorik des brüllenden Kühlers am Ende ist, zeigt das Design. Lange sah es so aus, als würden die Autodesigner, immer wenn sie einen neuen Wagen entwerfen mussten, dem Vehikel ein paar Vitaminpillen ins ohnehin schon übergroße Kühlermaul stopfen – und wenn wieder IAA war, standen die neuen Wagen da, als hätte man ein paar griechische Tragödienmasken über ihre Frontpartie geprügelt: Zornesfalten über den Scheinwerferaugen, aufgerissene Kühlermäuler mit Säbelzahnstäben, als wolle der Wagen den anderen Verkehrsteilnehmern mitteilen, dass sie gefälligst Platz zu machen haben, wenn sie nicht umgehend aufgefressen werden wollen. Wenn ein neues Auto entworfen werden musste, wurde einfach der Regler ein bisschen mehr aufgedreht: mehr PS, mehr Muskeln, mehr Fratze. Dazu passte das Design des Motorsounds: Die PS-stärkeren Neuigkeiten brüllten beim Starten so los, als sei man einem Löwen auf den Schwanz getreten. In Fachkreisen ist das als Harley-Davidson-Effekt bekannt: Das höllische Scheppern und Krachen macht dem, der es veranstaltet, Spaß, allen anderen ist es ein Ärgernis in den Ohren. Die letzten Audis, die man sah, perfektionierten den akustischen und optischen Überwältigungslärm bis zu einem Punkt, an dem man dachte, auweia, die sind beim Verlassen des Werksgeländes durchs geschlossene Haupttor gefahren, und das Gatter ist vorn am Wagen hängengeblieben.
Während die Städte und Gemeinden sich um Lärmreduktion bemühten, wurden die Premiumautos immer lauter und bekamen immer mehr Auspuffrohre oder wenigstens Blenden, die wie riesige Rohre aussahen, ein Paradox, das man psychologisch deuten kann: Offenbar wendet man sich hier an eine Kundschaft, die den bürgerlichen Konsens, die Selbstverpflichtung zur Dezenz, aufgekündigt hat. Doch jetzt kippt diese Ästhetik um: Die aufgerissenen Mäuler, die Zornesfalten sehen in Zeiten von Dieselgate und drohenden Fahrverboten nicht mehr wie eine souveräne Gewaltandrohung aus, sondern wie der Ausdruck von Panik und Angst vor Bestrafung – oder schlicht albern, wie die gigantischen Hasenzähne des neuen BMW X7.
Diese Nasen aber werden immer mehr die Ausnahme. Die neuen Showcars stehen kleinlaut da wie Delinquenten, die nach einer durchsoffenen und durchgrölten Nacht mit schwerem Schädel auf der Wache zu sich kommen und dem ermittelnden Richter Besserung geloben. Sie saufen kein Benzin mehr, sie brüllen nicht mehr, sie haben Elektroantrieb und ihre Front ist glatt, weil kein zu belüftender Motor mehr darunter gurgelt; schmallippig summen sie das Lied vom Elektrozeitalter. Beim Audi Aicon hängt der der berühmte Single-Frame-Grill wie ein verkümmertes Organ, als Zitat einer vergangenen Zeit, vorn am Wagen gleich einer platten Metallbadewanne. Bei Volkswagens I.D. Crozz verschwindet er ganz, wie vorher schon beim Tesla 3 und jetzt auch beim Renault Symbioz und dem neuen Borgward aus China, der die Ästhetik fürs Elektrozeitalter vorführt: Glatte Nase, lautloses Dahingleiten, Vollvernetzung.
Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass die weitreichendsten Konzepte zur angeblich ökologisch gebotenen Systematisierung und zentralen Steuerung des Verkehrs mit robotisierten Autos, die dem Fahrer das Lenken aus der Hand nehmen, aus dem kommunistischen China kommen, das den gesamten Verkehr des Landes auf Elektrofahrzeuge und autoritäre Zentralsteuerung umstellen will. Sogesehen ist der Borgward in mehrerlei Hinsicht das Auto der Stunde. Dass das Fetischobjekt des 20. Jahrhunderts, das Auto, vom Fetischobjekt des 21. Jahrhunderts, dem Smartphone, förmlich verschluckt wird, zeigt sich am Mercedes-Stand, wo der neue Eqa das blaue Leuchten und die schwarze glatte Oberfläche der Touchscreens adaptiert. Dass die Autoindustrie vor dem Silicon Valley kapituliert hat – all das wird nirgendwo so sichtbar wie am Honda-Stand:
Der japanische Hersteller präsentiert ein Elektroauto, das aussieht, als habe ein Volkswagen Golf aus den Siebzigerjahren sich in ein iPhone verwandeln wollen, und tatsächlich werden die Autos ja immer mehr zu Computern auf Rädern, bei denen die Gewinnmargen für die Hersteller in Zukunft vor allem durch das erzielt werden, was der Mitfahrer während der Fahrt an verkaufbaren Daten produziert oder online konsumiert; hinter der Verwohnzimmerung und iPhonisierung des Autos steht vor allem ein ökonomisches Konzept. Dass man auf ökofuturistische Weise ohne Benzin, aber anders als beim Elektroauto auch ohne giftige Batterieproduktion und ohne seltene Erden aus Afrika herumfahren kann, zeigen zwei Autos, die im unkritischen Rummel um die elektrifizierte Autowelt fast untergehen: der Honda Clarity und der Mercedes GLC Fuel Cell sind schon (Honda) oder sehr bald (Mercedes) zu leasen und fahren mit Wasserstoff.
Vom klassischen Auto könnte so wenigstens der Motorsound gerettet werden, und das allein wäre im großen E-Summen ein Grund, diese Technologie zu fördern.
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Autopilot von Niklas Maak
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