Made in Ukraine
Von der Terra Incognita zur boomenden Kreativwirtschaft

Noch ist die Ukraine für viele eine Terra Incognita, ein weißes Blatt Papier im Skizzenblock des Designs. Doch wer die Augen aufmacht, erlebt das Baader-Meinhof-Phänomen. Plötzlich ist sie einfach überall. Ukrainische Mode von Marken wie Paskal, Litkovskaya oder Vita Kin werden von Hollywoodstars getragen. Junge Designer*innen und Architekt*innen modellieren mit rasanter Dynamik eine Welt, die sowohl vom Ausland als auch der eigenen Tradition inspiriert ist. Sechs Jahre nach der Maidan-Revolution hat die kulturelle Identität bei der Selbstfindung die Hauptrolle übernommen. Wir besuchen Kiew auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: Was bewegt diese Szene, die aktuell weit über die Grenzen hinaus Furore macht?
Der erste Moment am Flughafen Kiew ist halbwegs bizarr. Vom Plakat lächelt dem Besucher Vitali Klitschko entgegen, er ist hier schließlich Bürgermeister. Die Stadt selbst empfängt mit strenger Kühle. Ihr Antlitz ist von sowjetischer Architektur geprägt, Plattenbauten stehen massiv am Straßenrand, brutalistische Betonwürfel, riesige Denkmäler und Statuen weisen die Menschen mit schierer Größe in die Schranken. Im Zentrum wird es flauschiger mit prunkvollen Altbauten und bunten Fassaden. Und dann ist da der Maidan Nezalezhnsti, der Platz der Unabhängigkeit. Der Ort, der die jüngere Geschichte des Landes in zwei Teile spaltet: ein Vorher und ein Nachher. Im Winter 2013/2014 protestierte die Bevölkerung gegen die Entscheidung der Regierung, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen. Im Februar eskalierten die Ereignisse, 80 Menschen kamen ums Leben – in handgreiflichen Auseinandersetzungen, aber auch durch den Einsatz von Schusswaffen. Am 23. Februar verabschiedete sich Präsident Yanukovych. 23 Jahre hatte die Ukraine damals die Unabhängigkeit auf dem Papier, aber mit Maidan und dem Abtritt des pro-russischen Präsidenten Yanukovych fühlte sich die Freiheit für viele zum ersten Mal real an.
Patriotismus als Designelement
Kein Blick auf die Ukraine kann ohne den Blick auf diese Ereignisse stattfinden. Sie haben die Menschen und die Haltung gegenüber ihrem Land im tiefsten Innern erschüttert. Aber ihr Ausgang hat sie ebenso stark gemacht: Sie sind nicht nur bereit, für die Ukraine und ihre Identität einzutreten, es ist zu ihrer Mission geworden. Die Kultur, Tradition und Geschichte übernimmt dabei im übertragenen Sinne die Funktion einer Flagge, die mit all ihrer Symbolkraft und ihrer immanenten Historie vor sich her getragen wird. Eine Mitarbeiterin des Möbellabels Faina erzählt uns, wie ukrainische Produkte früher oft verachtet wurden. „Wenn auf dem Geschirr Made in Ukraine stand, wollte es keiner haben. Es war nichts Besonderes. Wir wollten Dinge aus Italien, aus Skandinavien oder Deutschland. Die waren schwer zu bekommen – und vor allem wirklich teuer.“ Heute ist das anders. Die internationalen Marken sind in Kiew angekommen, aber mittlerweile kaufen die Ukrainer*innen ihre traditionellen Töpferwaren und tragen selbst in den Bars ihre Vyshyvanka, ein besticktes Trachtenshirt. Neben H&M gibt es auf der Einkaufsmeile Khreschatyk zwei Läden namens Vsi Svoi. Das eine Geschäft verkauft Produkte junger Gestalter*innen, von der Keramik bis zum Teppich, das andere Kleidung von knapp 150 ukrainischen Modedesigner*innen. Die Kleidung ist individuell, kreativ – und günstig. Der Stilmix aus Made in Ukraine und westlichen Marken wurde mittlerweile „Kyiv Style“ getauft.
Eine kreative Renaissance
Dass das Handwerk wieder erwacht und ins moderne Design hinübergezogen ist, hat auch mit den jungen Kreativen zu tun. Für viele ist es eine bewusste Entscheidung, ihr Studio in Kiew, Lviv oder Odessa zu eröffnen – und nicht in Berlin oder Paris. Die Auswahl an Hochschulen, die ein Architektur- oder Designstudium anbieten, war in der Ukraine lange überschaubar, ihre Ausrichtung eher technisch und kaum progressiv. Viele der Studierenden gingen deshalb an renommierte Schulen ins Ausland. Wer die aktuellen Protagonist*innen der Szene wie Masha Reva oder Studio Shovk nach ihrem Werdegang fragt, hört von Saint Martins in London oder dem Politecnico in Mailand. Bis 2014 gab einen kreativen Braindrain: Viele blieben nach dem Studium im Ausland hängen, um dort zu arbeiten. Dann wurde die Lage wirtschaftlich besser, und es kamen ein paar Investor*innen. Die Stadt veränderte ihr Gesicht, die Kreativen kehrten zurück. Sie öffneten kleine Shops, verkauften ihre Kollektionen in Hinterhöfen. Der alte Stil, bei dem Gold, überbordende Verzierungen und laute Logos noch als Luxus galten, blieb dabei auf der Strecke.
Selbstfindung und Neuerfindung
Yova Yager ist Interieurdesignerin und führt ihr eigenes Studio in Kiew. Daneben arbeitet sie als Model, DJ, Influencerin. Auch das ist typisch für ukrainische Kreative: Kaum jemand zwischen Kiew und Odessa führt nur ein Business – so als würde man der aktuell guten Stimmung in der Kulturwirtschaft noch nicht so recht trauen. Yova erzählt von dem Kiew ihrer Anfänge vor zehn Jahren. „Es gab einfach wenig zu tun. Bars und Restaurants waren meist an die Hotels angeschlossen.“ Davon ist im Kiew 2020 nichts mehr zu spüren. Hinter den bröckelnden Fassaden entstehen mondäne „Locations“: Pop-Up-Stores, Kaffeeröstereien, Gastronomien. Sie finden hier schnell ein Zuhause und zeigen den größtmöglichen Kontrast zwischen Hülle und Nutzung. Die Interieurs sind bis ins Detail kuratiert, mit einem Bein in der Zukunft und mit dem ästhetischen Selbstverständnis einer großen Geste. Wären da nicht die alten Ziegelwände, die verraten, dass dies nur der erste, schnellste Schritt ist, bevor womöglich die flächendeckende Modernisierungswelle einsetzt oder die Neubauten landen. Für Innenarchitekt*innen ist Kiew derzeit eine Spielwiese mit viel Auslauf. „Bauunternehmer*innen und Kapitalanleger*innen sind sehr daran interessiert, zu investieren. Und sie wünschen sich moderne und coole Projekte“, sagen die Gründer von Studio Shovk.
Das Erbe ehren
Was die Protagonist*innen des Designs eint: Sie sind alle jung, haben schon viel realisiert und sind mutig genug, ein Unternehmen zu gründen. Darüber hinaus zeigt die Szene in der Ukraine Verbundenheit. Man kennt einander, mag sich und kooperiert. Die Innenarchitekt*innen suchen erst bei den heimischen Möbeldesigner*innen nach passender Ausstattung, bevor sie einen italienischen Katalog aufschlagen. Das zeugt von kreativem Respekt, aber auch von Nationalstolz. Die eigene Kultur spielt auch deshalb heute so eine große Rolle, weil sie in der Geschichte der Ukraine immer wieder übergangen oder unterdrückt wurde. Sie hat sich Respekt verdient. Auch deswegen hat das, was man aus der Dingwelt in sein Leben lässt, Symbolwirkung. Genauso wie das, was man in die Welt hinausträgt.
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