Ode an die Sinnlichkeit
100 Jahre Memphis-Gründer Sottsass
Ettore Sottsass kommt in diesem Jahr ganz groß raus. Der Grund dafür: Im September wäre der Meister der Sinnlichkeit 100 Jahre alt geworden. Industrielle Serienproduktion und Kunsthandwerk brachte der umtriebige Gestalter und späterer Memphis-Gründer ebenso unter einen Hut wie die Fotografie und das Schreiben. Seit dem 14. Juli läuft im Schaudepot des Vitra Design Museums die Ausstellung Rebell und Poet, gefolgt von weiteren Retrospektiven im New Yorker Metropolitan Museum sowie in der Mailänder Triennale.
Gewisse Dinge gehen nur in der Nacht. Für Ettore Sottsass (1917–2007) war es das Schreiben. Immer wieder brachte er seine Gedanken über die Gestaltung aufs Papier – was gleich auf mehrfache Weise symptomatisch für ihn war. Die Materialisierung von Gedanken in Form von Worten war sein Metier als Chefdesigner von Olivetti, wo er ab 1958 Computer und Schreibmaschinen entwarf. Gleichzeitig wollte er die Formgebung ebenso auf einer geistigen Ebene erkunden und suchte nach einem „Warum“ für sein tägliches Metier. „Sottsass war nie ein bloßer Stilist. Er wollte immer an die Wurzel der Dinge gehen“, sagt Deyan Sudjic, Direktor des Londoner Designmuseums.
Mensch und Objekt
Dabei brach der in Innsbruck geborene Italiener mit den Dogmen seiner Profession: „Design bedeutet nicht notwendigerweise, ein Produkt zu gestalten, das wenig kostet, sich in hohen Stückzahlen verkauft und viel Geld einbringt… Das ist mir egal. Ich möchte wissen, was dieses Produkt ist und welchen Effekt es auf die Menschen haben wird“, brachte Sottsass seinen Anspruch auf den Punkt. Nicht das Objekt an sich, sondern seine Beziehung zum Menschen interessieren ihn. Schon bei seinem ersten Entwurf für Olivetti, dem Computer Elea 9003 verringerte Sottsass die Höhe der zuvor noch raumhohen Riesenmaschinen, sodass sich die Mitarbeiter wieder sehen konnten. Bei den Tasten hingegen kam Farbe ins Spiel, um Orientierung und Wohlbefinden gleichermassen zu erzeugen. Sottsass steigerte die Sinnlichkeit der Maschinen immer weiter, bis sie in Valentine, der knallroten Reiseschreibmaschine (1968), schließlich ihren Höhepunkt fand.
Von Shiva lernen
Die Gestaltung wollte Sottsass ihres Korsetts befreien. Um dafür Inspiration zu finden, unternahm er zahlreiche Reisen. In den späten Fünfzigerjahren begegnete er George Nelson in New York und lernte die gerade aufkeimende Pop-Art kennen. Ebenso zog es ihn 1961 nach Indien – sieben Jahre vor den Beatles und dem darauf folgenden Schwarm von Goa-Aussteigern. Das Exotische und Fremde wurde zu einem Filter, um die abendländische Gestaltung zu hinterfragen und ein immer stärkeres Misstrauen gegenüber der rationalen Moderne zu entwickeln. „Indien ist kein Land des Monotheismus, sondern einer Religion mit vielen verschiedenen Göttern“, zeigte sich Sottsass fasziniert. „Die Menschen können sich dort sogar ihre eigenen Götter erschaffen.“
Vordenker des Radical Design
Diversität statt Vereinheitlichung wurde zu seiner Maxime. Sottsass beherrschte die Verspieltheit ebenso wie die Klarheit – und konnte nach Belieben zwischen beiden changieren. Und so brach er mit der „Guten Form“, indem er eine stimulierende Exotik einbrachte und seine Entwürfe mit Analogien zu Masken und Totems versah. Möbel und Objekte wurden zu Symbolen erkoren, die aus dem Windschatten der Funktionalität ausscherten und auf eine Interaktion mit dem Benutzer setzten. Sottsass wurde damit zum Frontkämpfer des gerade aufkeimenden Radical Design in Italien, das ebenso von Gruppen wie Superstudio, Archizoom oder Studio Alchimia forciert wurde und Sinnlichkeit und Emotion als Gegenmittel zum mausgrauen Rationalismus verstanden.
Der collagierende Effekt
Entscheidend ist für Sottsass nicht nur das Zusammenspiel aus Mustern, Farben und Texturen. Auch bei der Materialität vertraute er dem Prinzip der Vielfalt: „Wenn ich ein Möbelstück entwerfe, warum sollte alles aus Holz, Marmor, Bronze oder Gold sein? Warum kann ich stattdessen keine Collage aus unterschiedlichen Materialien erzeugen und auf einen kleinen Schock warten – genau wie bei einer Batterie, die auch aus unterschiedlichen Materialien zusammengesetzt ist und eine leichte Elektrizität erzeugt?“ Eine wichtige Rolle spielt dabei die frühe Faszination für das Handwerk, das Sottsass nie als Antipoden zur industriellen Gestaltung verstand, sondern eher als einen bereichernden Partner.
Industrie und Handwerk
Parallel zu seiner Arbeit bei Olivetti entwickelte er in den frühen Sechzigerjahren die „Keramiken der Dunkelheit“ und die „Keramiken für Shiva“, die deutlich von indischer Mystik beeinflusst waren. Gebrannten Erden blieb er auch weiterhin treu und schuf Vasen für den Keramikhersteller Bitossi oder die Porzellanmanufaktur Sèvres. Doch der Rohstoff, der ihn über all die Jahre am meisten in den Bann zog, war Glas. Bereits 1947 schuf er seine ersten Vasen auf Murano und setzte sich bis an sein Lebensende mit dem zerbrechlichen Werkstoff auseinander. Glas wurde von ihm nicht für Gläser, Teller oder Schalen verwendet, sondern für großformatige Vasen an der Schnittstelle zur Skulptur, die eine raumgreifende Wirkung entfalten sollten.
Exklusiv und inklusiv
Auch wenn der Name Sottsass unweigerlich mit der von ihm gegründeten Memphis-Gruppe verbunden wird: Als diese am 18. September 1981 ihre Premiere feierte, war Sottsass bereits 64 Jahre alt. Es war die Krönung einer Karriere, die bereits seit drei Dekaden auf vollen Touren lief. Memphis traf den Zeitgeist der Achtziger derart, dass die Bewegung über Nacht zum Mainstream wurde. Indem sich die ursprüngliche Protesthaltung in einen verbindlichen Stil wandelte, der von anderen Herstellern und Designern rund um den Globus kopiert wurde, ging die Vorreiterrolle verloren. Und so wurde Memphis 1988 – im verflixten siebten Jahr – wieder aufgelöst. Ihre Wirkung hat die Gruppe dennoch nicht verfehlt: „Wir waren lange Zeit nur ‚Augenmenschen‘, nun sind wir bereit, insbesondere den Tastsinn wieder zu entdecken“, bringt der frühere Memphis-Mitstreiter Matteo Thun den bis heute anhaltenden Memphis-Effekt auf den Punkt.
Neue Ausstellungen
Sottsass ist derzeit allgegenwärtig. Während der Mailänder Möbelmesse lüftete BMW zwei Memphis-inspirerte Fahrzeuge. Auf der Sammlermesse Design Miami Basel Mitte Juni wurde Sottsass mit mehreren Präsentationen gewürdigt. Bereits seit Mai sind in der Fondazione Cini in Venedig seine Glasarbeiten aus den Jahren 1947 bis 2007 zu sehen (bis 30. Juli). Und nun geben sich gleich drei Museen die Sottsass-Klinke in die Hand: Am 14. Juli öffnete im Schaudepot des Vitra Design Museums die Ausstellung Rebell und Poet (bis 24. September). Am 21. Juli folgt das New Yorker Metropolitan Museum of Art mit der Sottsass-Schau Design Radical (bis 8. Oktober). Und am 14. September schließt sich pünktlich zum 100. Geburtstag die Ausstellung There is a Planet (bis 25. Februar 2018) in der Mailänder Triennale an. An Ettore Sottsass führt in diesem Jahr wirklich kein Weg vorbei.