Sedus zählt zu den führenden Objektmöbelherstellern in Deutschland. Doch wer steckt hinter den erfolgreichen Entwürfen? Wir sprachen mit Judith Daur, Industriedesignerin und Shootingstar des Sedus-Designteams, über die inspirierende Seite von Normen, das Phänomen der Männerdomäne und die Zukunft des Sitzens.
Judith Daur, Sie haben an der Hochschule Darmstadt Industriedesign studiert und sich in Ihrer Abschlussarbeit Wolkenwerk-Raumelement mit dem Thema Rückzug und Kommunikation am Arbeitsplatz beschäftigt. War für Sie von Anfang an klar, dass Sie als Designerin in den Objektmöbelbereich gehen wollten? Das hat sich während meines Studiums herauskristallisiert: An Möbeldesign hatte ich schon immer großes Interesse. Das Gestalten von Möbeln im Arbeitsumfeld hat zusätzlich noch die Herausforderung, Normen einzuhalten und einen hohen technischen Anspruch, der mich persönlich sehr reizt.
Wie muss man sich die Arbeit eines Inhouse-Designers bei Sedus vorstellen? Bei Sedus wird jedes Projekt durch ein Team bearbeitet, an dem ein Designer, ein Konstrukteur, der gleichzeitig auch Projektleiter ist, ein Musterbauer und ein Produktmanager beteiligt sind. Mit einem Briefing aus dem Produktmanagement beginnt unsere Arbeit: In dieser Konzeptphase wird das Strukturkonzept entwickelt und ein Designkonzept angedacht. Mit der Verabschiedung des Konzepts beginnt die eigentliche Designphase, in der Details ausgearbeitet werden und das Design finalisiert wird. In diesen Phasen steht man in engem Austausch mit der Konstruktion und dem Musterbau. Nach einer erfolgreich abgeschlossenen Designphase beginnt die Konstruktionsphase, in der wir Designer begleitend unterstützen. Der größte Unterschied eines Inhouse-Designers bei Sedus im Vergleich zu einer Designagentur ist die intensive Betreuung bis zur Serieneinführung, manchmal auch danach. Dabei verschafft der direkte Kontakt zur Fertigung Einblicke, die eine bessere Gestaltung für die Firma ermöglichen.
Wo finden Sie Ihre Inspiration? Das ist ganz unterschiedlich: Mal in alltäglichen Situationen, auf Reisen oder in der Natur. Natürlich auch in anderen kreativen Disziplinen wie der Architektur, in neuen wie alten Materialien, Fertigungsverfahren, technischen Innovationen, im Experimentieren mit Papier…
Wünschten Sie sich manchmal mehr kreative Freiheit in Ihrer Arbeit? Oder sehen Sie die komplexen Anforderungen des Objektbereichs eher als Ansporn? Diese Anforderungen machen das Design eines Produktes nicht beliebig. Alle Faktoren in eine stimmige Struktur zu übersetzen, macht diesen Beruf für mich aus.
Ist der Objektmöbelbereich in Deutschland noch immer eine „Männerdomäne“ – oder nähern wir uns langsam skandinavischen Standards? Solange diese Frage gestellt wird, scheint es noch so zu sein… Dieses Phänomen kann man in allen technischen Berufen beobachten, auch die Designbranche mit technischem Schwerpunkt wie der Büromöbelbranche ist davon nicht ausgenommen.
Sie haben viele Stühle entworfen. Was fasziniert Sie an Sitzobjekten? Es ist das Alltagsprodukt, mit dem wir über Jahrhunderte hinweg täglich in Berührung kommen, wir haben unmittelbaren Körperkontakt mit Sitzobjekten, zum Teil über einen sehr langen Zeitraum, das gilt insbesondere für Bürodrehstühle. Sitzmöbel haben daher einen hohen ergonomischen Anspruch und sind früher wie heute ein Prestigesymbol.
Sie sagen, ein Produkt sollte „auf Anhieb sympathisch“ sein – wie bewerkstelligen Sie das? Ich versuche, die Produkte übersichtlich und verständlich zu gestalten, komplexe Produkte einfach anmuten zu lassen und mit liebevollen Details zu versehen.
Was sind die Herausforderungen beim Entwerfen eines Drehstuhls? Die Einhaltung der Normen, die zum Beispiel immer höhere Nutzergewichte vorsehen, ist eine der Herausforderungen. Eine herausragende Ergonomie ist dabei eine Grundvoraussetzung. Bei einem immer stärker werdenden globalen Wettbewerb spielt auch die Wirtschaftlichkeit eine wichtige Rolle. Die größte aller Herausforderungen bei der Anzahl an Drehstühlen, die es auf dem Markt gibt, ist aber das Finden von neuen Strukturen, die all diese Faktoren vereinen. Es geht also immer darum, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, sie zu vereinfachen und zu veranschaulichen.
Ihr Management- und Konferenzdrehsessel Se:line besticht mit einer innovativen Konstruktion, bei der die Armlehnen als Federkraftspeicher dienen. Wie lautete das Briefing zu dem Stuhl? Ziel war es, einen repräsentativen und reduzierten Konferenzdrehstuhl zu entwerfen, der nahe an den Komfort eines persönlichen Drehstuhls heranreicht. Mit Se:line sollte ein leichter und eleganter Stuhl entstehen, der das Sedus-Portfolio ergänzt. Dadurch, dass die Armlehne gleichzeitig die Funktion der Feder übernimmt, konnte auf eine herkömmliche Mechanik, ich nenne sie die „black box“ unter einem Drehstuhl, verzichtet werden. So konnten wir nicht nur den gleichen Bewegungsablauf und damit den gleichen Komfort wie bei einem herkömmlichen Drehstuhl sondern auch eine leichte und reduzierte Anmutung erzeugen.
Wie wichtig ist Bewegung beim Sitzen? Beim konzentrierten Arbeiten im Sitzen geht es eigentlich um Komfort und ein optimales Gleichgewicht aus Stabilisierung und Bewegungsfreiheit. Fehlhaltungen aufgrund von zu viel Bewegungsfreiheit sollten genauso wenig angestrebt werden wie Stühle, die so unkomfortabel sind, dass man sich mehr auf die richtige Sitzposition als auf seine Arbeit konzentriert. Nur durch Bewegung können wir unsere Durchblutung fördern, sei es auf dem Stuhl durch Kleinstbewegungen und Haltungswechsel oder durch gelegentliches Aufstehen oder den Gang zur Kaffeemaschine.
Warum werden noch immer so viele Stühle entworfen, die der Beweglichkeit des Sitzenden entgegenwirken? Ein Stuhl, der Bewegung verhindert, fällt mir momentan nicht ein, höchstens ein kuscheliges Sofa. Aber auch das hat bekanntlich seine Berechtigung. Es gibt unbewegliche Stühle, die durch ihre optimale Konturierung einen guten Sitzkomfort erzeugen, dann gibt es Stühle, die gerade durch ihren Mangel an Komfort Bewegungsdrang erzeugen und dann die Art von Stühlen, die die natürliche Bewegung des Körpers mehr oder weniger imitieren oder sie versuchen zuzulassen. Davon gibt es in letzter Zeit sehr viele Ansätze im Markt zu beobachten.
Ihre Entwürfe haben bereits viele internationale Auszeichnungen bekommen. Was macht sie besonders? Sie sind zugänglich.
Wird sich das Sitzen in Zukunft verändern? Solange wir die Schwerkraft nicht eliminieren können, wird auch das Sitzen ein Grundbedürfnis bleiben. Gleichzeit wird Technik noch selbstverständlicher, unsichtbarer, leichter, intelligenter und intuitiver: Ein Stuhl, der sich optimal auf mich einstellt und der mich in der Position optimal unterstützt, in der ich gerne sitze, könnte ein Szenario sein. Das ist auch eine Tendenz, die sich ganz klar abzeichnet: Viele Verstellmöglichkeiten am eigenen Stuhl werden nicht genutzt, man möchte sich nicht lange mit einem Stuhl auseinandersetzen müssen, sondern einfach nur bequem sitzen. Dennoch denke ich, dass die Möbel der Zukunft bei der einhergehenden Digitalisierung und Entmaterialisierung noch mehr denn je unsere Sinne ansprechen sollten.
Vielen Dank für das Gespräch!
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