Cool rasten
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Eine Autobahn-Raststätte, die zum Mekka von Architektur-Liebhabern werden könnte? Die gibt es in der Schweiz. Genauer gesagt kurz vor der Ausfahrt zur sagenumwobenen Viamala-Schlucht im Kanton Graubünden. Erdacht haben sich dieses kleine architektonische Wunderwerk die jungen, in Thusis ansässigen Architekten Ivano Iseppi und Stefan Kurath. Sie entwarfen eine Raststätte mit angeschlossener Tankstelle, an der so gar nichts an unwirtlich karge Räume ohne Atmosphäre, kantinenähnliches, teures Essen oder zugige Außensitzplätze mit unansehnlichen weißen Monoblock-Spritzguss-Stühlen erinnert.
2005 hatten Iseppi und Kurath den eingeladenen Architekturwettbewerb gewonnen. Ihre Aufgabe: Mit einem Budget von insgesamt 9,5 Millionen Schweizer Franken sollte eine Raststätte mit weitläufigem Parkplatz, Tankstelle, Shop und diversen anderen Räumlichkeiten auf einer bis dahin landwirtschaftlich genutzten Fläche von insgesamt 24.000 Quadratmetern entstehen. Nicht gerade ein üppiges Budget für solch eine umfangreiche Bauaufgabe, aber aus der Not wächst bekanntlich manchmal eine Tugend. Im kreativen Sparen erwiesen sich die beiden Architekten als besonders gut, wie beispielsweise die Gestaltung des Parkplatzes zeigt, die dem Prinzip der Wiederverwertung folgt: Die Steine zwischen den einzelnen Parkfeldern stammen nämlich aus dem Aushub der Baustelle.
Idylle in den Bergen
Die in diesem Sommer eröffnete Raststätte liegt an der Schweizer Transit-Autobahn-Strecke A 13, gleich an der Ausfahrt Thusis Nord. Hier kommt vorbei, wer in Richtung Viamala-Schlucht unterwegs ist – und das sind etwa 70.000 Reisende pro Jahr. Möchte man sich vor dem Abstieg auf Hunderten von Stufen hinunter in die 300 Meter tiefe Schlucht noch stärken, kann man hier eine Rast einlegen. Vielleicht auch angelockt durch die von außen simple, aber doch recht spektakuläre Architektur, deren Silhouette mit Assoziationen an die umgebenden Berge spielt.
Von leuchtenden Wolken und Stäben
Weil Iseppi und Kurath die Tankstelle nicht mit einem separaten Dach versehen wollten, teilen sich Tankstelle und Raststätte nun ein gemeinsames Zickzack-Dach. Hier befindet sich auch der Eingang zum Restaurant. Der großzügige Innenraum besticht durch Dynamik und Spannung. Die Architekten haben es verstanden, einen Grundriss zu entwerfen, der den bei Raststätten üblichen Rundgang ermöglicht. Betritt man den Hauptraum mit Bar und Restaurant, erstaunt die Weitläufigkeit des asymmetrisch geschnittenen Innenraums. Die gewaltige Holzkonstruktion wird durch einzelne, aussteifende Betonwände gestützt. Decke und Wände bilden eine gestalterische Einheit, die durch das Lichtkonzept unterstützt wird: Während die Bar von kugelrunden Leuchten wie eine Wolke umfangen wird, geht es im Essensraum grafisch zu: Hier werfen stabähnliche Neonröhren ihr Licht auf die Verweilenden.
Regionale Trouvaillen als Proviant
Ein üppiges Angebot an Speisen erwartet die Gäste: Nicht nur bekömmliches Fastfood wie knusprige Sandwiches, nein, auch köstliche Leckereien, die direkt aus der Umgebung stammen. Kulinarisch ist für jeden etwas dabei: dem Angebot der Saison entsprechende Kost, große und kleine Portionen, Kindergerichte, selbst hergestellte Pasta oder frisch gepresste Säfte. Auch mit Proviant für unterwegs kann sich der Reisende eindecken: im „Regio Viamala“ genannten Einkaufsmarkt. Hier werden Produkte verkauft, die früher lediglich als Trouvaillen in den einsamen Dörfern erhältlich waren. Nun gibt es, nur einen Kreisel entfernt von der verkehrsumtosten Autobahn gelegen, ein wenig bäuerliche Atmosphäre gratis dazu: Durch das große Panoramafenster des Restaurants kann man Bauern der Umgebung ihre Äcker pflügen sehen. Denn bis auf zwei Meter ragt die Erde der Felder an die Raststätte heran, umschattet von beeindruckenden Bergkuppen.
Auch wenn Viamala ja eigentlich übersetzt „schlechter Weg“ bedeutet – es ist durchaus möglich, dass bald die Raststätte selbst zum Reiseziel wird. Und eines ist besonders schön:: Wer möchte, kann auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad anreisen.
FOTOGRAFIE Thomas Drexel
Thomas Drexel
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