Gedeckelter Genuss
Die Shustov Brandy Bar in Odessa entführt in eine sanfte Unterwelt.
Die Shustov Brandy Bar in Odessa entführt in eine sanfte Unterwelt. Nach den Plänen des ukrainischen Architekten Denis Belenko entstand in einem Kellergewölbe aus dem 19. Jahrhundert eine atmosphärische Höhle mit industriellem Charme.
Zugegeben: Die meisten Meldungen, die uns derzeit aus der Ukraine erreichen, geben vor allem Anlass zu Sorgenfalten. Umso erfreulicher ist es, wenn das alltägliche Leben vor Ort den politischen Wirren zum Trotz weitergeht. Einen Beitrag dazu leistet der Architekt Denis Belenko aus Odessa. Zusammen mit seinem Büro Belenko Design Band hat er sich bereits mit der Einrichtung zahlreicher Lokale in der Schwarzmeerstadt einen Namen gemacht. Auch sein neuester Coup entführt geradewegs in dionysische Gefilde. Eine Bar, die sich der bekanntesten Spirituose der Region verschrieben hat: dem Weinbrand.
Wiederbelebung einer Tradition
Am Schwarzen Meer hat der Weinanbau nicht nur eine lange Tradition. Er stellt zugleich einen bedeutenden Wirtschaftszweig dar. Allein im Umland von Odessa erstrecken sich die Reben auf einer Fläche etwa so groß wie Belgien. Und wo Wein ist, ist auch Weinbrand. Bereits im 19. Jahrhundert kamen französische Siedler in die Region und gründeten die ersten Destillerien, die sich schon bald in ganz Europa einen Namen machen konnten. Zu den ältesten und bis heute bestehenden Marken gehören Kherson, Askania, Tavria, Jatone und Shustov. Die Betreiber von Shustov sorgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit massiven Anzeigenkampagnen dafür, dass das eigene Glockenlogo selbst in Frankreich – immerhin dem Geburtsland des Cognacs – bekannter war als alle einheimischen Erzeugnisse.
In Odessa hat sich die Marke nun auf ihre eigenen Wurzeln besonnen. Wird Shustov von vielen Ukrainern vor allem mit dem gleichnamigen Wodka assoziiert, entstand im Zentrum der Schwarzmeermetropole ein eigenes Firmenmuseum mitsamt einer aufklärerischen Bar. Schon beim Betreten des Empfangsraums im Erdgeschoss wird unmissverständlich deutlich gemacht, was hier in die Gläser kommt. Unzählige Deckel von Eichenfässern, in denen die hauseigenen Weinbrände mindestens sechs Jahre lang reifen, bedecken die Wände als hochprozentiges Relief.
Die Deckel folgen keinem starren Raster, sondern wirken locker platziert. Mit ihrer differenzierten Farbigkeit, die zwischen hellen und dunklen Tönen beständig changiert, verleihen sie dem Raum Struktur. Darüber hängen 20.000 leere Weinbrandflaschen von der Decke herab und verwandeln sie in einen raumgreifenden Lüster: ein wogendes Meer aus Licht und Glas, das die Besucher geradewegs ins Untergeschoss weiterführt.
Handfeste Materie
Der Barraum gleicht einer atmosphärischen Höhle, in der die Wände mit der Decke nahtlos verschmelzen. Auch sie sind mit unzähligen Fassdeckeln verkleidet. Doch anders als im Eingangsbereich stehen die Deckel aufgrund der Raumwölbung von den Wänden weiter ab und erzeugen einen teils dramatischen Schattenwurf. Der Grund: Die Beleuchtung mit schwarz-emaillierten Industrie-Arbeitsleuchten sowie zwei dicht bestückten Scheinwerferreihen arbeitet die plastischen Qualitäten des Reliefs eindrucksvoll heraus.
Die Deckel markieren zugleich den Übergang zur Möblierung, die Denis Belenko wie bei allen seinen Projekten eigens für diesen Ort konzipiert hat. Während einige Fassdeckel als Tischplatten zum Einsatz kommen und von grob verschweißten Metallgestellen getragen werden, können Tische mit rechteckigen Platten zu langen Reihen arrangiert werden. Ein freistehender Ohrensessel sowie ein für zehn Personen ausgelegtes Sofa bringen mit einer Chesterfield-Steppung Wohnlichkeit in das Kellergewölbe aus dem 19. Jahrhundert. Für einen rhythmischen Auftritt sorgen derweil die matten Terrakotta-Ziegel am Boden, die den gesamten Raum im Frischgrätmuster durchziehen und so die hölzernen Stühle zum Tanzen bringen.
Ohne Logo
Das Ergebnis dieser Inszenierung geht über klassisches Branding weit hinaus. Auch ohne die gesamte Bar mit dem eigenen Logo zu überziehen – so wie es die Werbeabteilung von Shustov vielleicht schon vor über hundert Jahren getan hätte – wird auf deutlich raffiniertere Weise vom Weinbrand erzählt. Mit einer Mischung aus industriellem Charme und sinnlicher Atmosphäre entstand in Odessa ein Refugium für den Genuss – ganz gleich, was auf der politischen Bühne zurzeit geschehen mag.
FOTOGRAFIE Pavel Babienko
Pavel Babienko
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