Mit Vollgas zum Gebet
Ein Ort zum Innehalten und zur Rast für die Seele: die Autobahnkirche Siegerland an der A45.

Seit über fünfzig Jahren werden sie, oft privat finanziert, entlang der Bundesautobahnen als kleine Orte der Ruhe und Andacht erbaut oder in nächster Nähe zu den Ausfahrten zu solchen erklärt: die Autobahnkirchen. Eine deutsche Besonderheit, denn im Ausland gibt es nur wenige solcher meist ökumenischen Gotteshäuser. Mit der Autobahnkirche Siegerland hat das Architekturbüro Schneider + Schumacher das nunmehr vierzigste Exemplar seiner Art realisiert.
Ein typisches Bild auf den Autobahnen: Raser und Drängler auf der einen Seite, Trödler und Ausbremser auf der anderen. Hinzu kommen Lastkraftwagen, Baustellen, Staus und Unfälle. Kein Wunder, dass die Fahrt auf den Asphaltschneisen selten als reines Fahrvergnügen beschrieben wird. Eher als andauernde Stresssituationen für Fahrer und Beifahrer. Auch gelegentliche Pausen an Reststätten lenken kaum vom Geschwindigkeitsrausch ab. Oft liegen Drive-in und Toilettenhäuschen direkt an den Ein- und Ausfahrtstraßen der Parkplätze. Und Picknick-Bänke, die vermeintlichen Ruheinseln, sind oft nur durch blickdichte Hecken vom lauten Röhren der Motoren getrennt. Ist das der richtige Ort, um Kirchen einzurichten?
Wegstock zu Autobahnkirche
Ja finden viele Autofahrer. So auch das Ehepaar Hanneliese und Hartmut Hering, das den Bau der christlich-ökumenischen Autobahnkirche Siegerland im nordrhein-westfälischen Wilnsdorf initiierte. Auf die Idee, am bestehenden Autohof eine Kirche zu erbauen, kamen die beiden bei einer Reise durch Süddeutschland, wo sie eine der deutschlandweit verstreuten Kirchen und Kapellen besuchten. Auf die automobilen Reisewege übertragen, übernehmen sie eine ähnliche Rolle ein wie etwa der mittelalterliche Wegstock oder die Wegkapelle, als Gebets- und Andachtsort. „Rastplätze der Seele“ werden die kleinen Gotteshäuser auch genannt.
Vereint finanziert
Ein solcher Ort fehlte dem Ehepaar an der stark befahrenen A45 – der Sauerlandlinie, die von Dortmund aus in Richtung Frankfurt am Main bis nach Aschaffenburg führt. Also gründeten sie einen Förderverein, schrieben einen Wettbewerb aus und entschieden sich mit dem Entwurf von Schneider + Schumacher aus Frankfurt am Main für einen äußerst expressiven Kirchenneubau. Das Grundstück dafür wurde von der Gemeinde Wilnsdorf bereitgestellt. Mit dem Verein als Bauherrn ermöglichten großzügige Spenden die Umsetzung des Projektes.
Zwischen Siegen und Wetzlar gelegen, führt Ausfahrt 23 des kleinen Ortes direkt zum Autohof mit Tankstelle, Raststätte, Fastfood-Restaurant und Hotel und seit vergangenem Jahr auch zur Kirche. Strahlend weiß überragt ihre symbolhafte Fassade mit den zwei Turmspitzen die umliegenden Baumwipfel. Bei der Gestaltung wurden die Architekten durch die ausgesprochene Klarheit inspiriert, mit der es die Beschilderungen solcher Rasthöfe verstehen, entlang der Bedürfnisse der Menschen zu navigieren. „Autohöfe sind Orte von unmissverständlicher Direktheit. Große Schilder zeigen, um was es hier geht: Tanken, Essen, Schlafen. Und vielleicht noch zur Ablenkung der Besuch einer Spielbank“, sagt Architekt Michael Schumacher.
Form Spricht für sich
Die Verdeutlichung seiner Funktion schafft der Bau mit seiner besonderen Formensprache. Denn aus zwei Richtungen betrachtet, zeichnet die Fassade das Symbol für Autobahnkirchen, das von den blauen Verkehrsschildern bekannt ist: die weiße Silhouette einer klassischen Dorfkirche. Aus anderen Blickwinkeln bleibt der abstrakte Bau kantig, skizzenhaft. Nur die zwei Turmspitzen auf dreieckiger Grundform signalisieren dann, dass es sich um ein Gotteshaus handelt. Beinahe schwebend wirkt das ganze Gebäude. Zum einen, weil sich die quadratische Grundfläche des Betonfundaments zu nur einer Ecke nach unten hin verjüngt – hier ist die Technik des Gebäudes untergebracht – und zum andern, weil es dem Autohof gegenüber auf eine tiefere Ebene gesetzt wurde. An der Rückseite führt die dunkle Stahltreppe des Notausgangs zum tiefer gelegenen Gelände. Über eine Zugangsrampe an der Vorderseite gelangt man vom Parkplatz aus zum überdachten Eingangsbereich.
Begrüßt mit den Worten „Er hat seinen Engeln, befohlen dich zu behüten auf allen deinen Wegen“ (Psalm 91,11), erfährt man im Inneren ein unerwartetes Gefühl der Stille und Geborgenheit, denn eine Dämmung der hölzernen Außenwand und Decke behält den Straßenlärm draußen. Auch der Umgang mit der Raumgestaltung, die in enger Abstimmung mit dem Bauherrn entwickelt wurde, überrascht. Die aus Grobspanplatten (OSB) konstruierte Innenkuppel aus 66 vertikal und horizontal zueinander verlaufenden Holzspanten ergibt das markante, organisch geschwungene Raster der höhlenartig gewölbten Innenkuppel, die aus 650 Einzelteilen zusammengesteckt wurde. Der Kirchenraum nimmt eine Kreisform an, die in den Ecken des quadratischen Grundrisses verborgene Räume für Sakristei und Lager schafft. Beim Blick nach oben erkennt man durch die Gitterstruktur des filigranen Gewölbes die weiße Deckenfläche, an der sich das dezente Raumlicht der Lichtspots verliert. Farbton und Struktur der anstrichlosen Platten bestimmen das Muster der Wandflächen. Erst mit dem gänzlich weißen Altar bricht der Farbklang. In einer der vier Ecken öffnet er sich dem Andachtsraum gegenüber auf einem Podest, mit einem großen, hinterleuchteten Kreuz. Genau hier fällt das einzige Tageslicht durch zwei zueinander gewandte Fensterflächen in den Turmspitzen hinein.
Alles aus einem Holz
Auf den Baustoff Grobspannplatte setzten die Gestalter auch bei den Möbeln und fügten dem Raum Hocker, Auslagetische, einen Pult für das Anliegenbuch, einen Stehpult und einen treppenförmigen Ständer für die Gebetskerzen hinzu. Auf technische Einbauten wurde weitgehend verzichtet. Allenfalls die Markierung des Notausgangs, die stimmig integrierten Leuchten oder die weißen Lichtschalter LS 990 von Jung fallen auf dezente Art ins Auge. Den Boden bedeckt ein glatt geschliffener Estrich, der sich vor allem durch seine Zurückhaltung und Robustheit auszeichnet.
Innehalten zwischendurch
Mit der Autobahnkirche Siegerland ist den Architekten ein extravagantes Werk gelungen, in dem ein zweidimensionales Symbol gekonnt in die Dreidimensionalität übertragen wurde. Durch schlichte Materialität konnte bei den Baukosten gespart werden. Und ganz ohne sich mit seinem spirituellen Hintergrund aufzudrängen, vermittelt der Bau sowohl bei gläubigen wie nichtgläubigen Durchreisenden ein Gefühl der Entspannung: die spontane Entschleunigung, die Gelegenheit innezuhalten und die Chance – sei es den Herrn oder fremde Reisende – im Anliegenbuch zu grüßen, ehe es weitergeht, im Eiltempo dem Fahrtziel entgegen.
Alle Beiträge aus unserem großen Themenspecial Hot Wheelz lesen Sie hier.
FOTOGRAFIE Jörg Hempel
Jörg Hempel
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