Virtuelle Zeitreise
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Als erstes deutsches Naturdenkmal wurde die Fossilienfundstätte Grube Messel in der Nähe von Darmstadt 1995 in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen. Seitdem strömen jährlich zahlreiche Besucher zu der rund 100 Meter tiefen Grube, im vergangenen Jahr waren es etwa 25 000. Dennoch hat es 15 Jahre gedauert, bis das Land Hessen ein Besucherinformationszentrum an der Original-Fundstätte errichten ließ, die im August dieses Jahres endlich den bisherigen Info-Baucontainer ablöste. Doch das Warten hat sich gelohnt, denn in dem neuen Zentrum durchwandern die Besucher in der Ausstellungsarchitektur nun virtuell 47 Millionen Jahre Evolution und besichtigen Gesteinsschichten in 433 Metern unter die Erde. Verantwortlich für die mediale Inszenierung der neuen Ausstellungsarchitektur zeichnet iart interactive aus Basel.
In dem ehemaligen Vulkankratersee Grube Messel wurden zwischen Ölschieferplatten inzwischen rund 40 000 Fossilien gefunden, unter anderem auch „Ida“, das weltweit älteste komplett erhaltene Fossil eines Primaten, durch das die Grube international bekannt wurde. Die Fossilien sind in mehreren Museen ausgestellt, unter anderem im Senckenberg Museum und im Hessischen Landesmuseum. Daher sollte das neue Besucherinformationszentrum am Fundort auch ausdrücklich kein Museum im klassischen Sinn sein. Die Intention der Auftraggeber – das Land Hessen und das Welterbe Grube Messel – bestand darin, den zunehmenden Besucherströmen, die inmitten einer Industriegegend lange nur in ein Loch schauen konnten, einen attraktiven Anlaufpunkt zu bescheren.
Information und Wissen auf spielerische Art
Im Rahmen eines 2004 ausgeschriebenen Wettbewerbs entschieden sich die Bauherren für einen Entwurf der Münchner Architekten Landau und Kindelbacher, der das Thema der geologischen Schichtung in Form von durchgehenden Wandscheiben aus Sichtbeton in die Architektur aufnimmt. Aus dieser baulichen Gliederung ergibt sich die innere Aufteilung, die von unterschiedlichen Höhen, den Wechsel von engen und weiten Räumen sowie hellen und dunklen Zonen geprägt ist. Das Interiordesign sowie die Gesamtszenografie der Dauerausstellung „Zeit und Messel Welten“ stammt vom Schweizer Büro Holzer Kobler Architekturen. Ziel der Ausstellungsgestaltung ist es, Informationen zur Grube Messel und den Fossilienfunden auf spielerische Art zu vermitteln und atmosphärisch erlebbar zu machen, wobei auch Fakten und wissenschaftliche Hintergründe einbezogen werden. Für die mediale Inszenierung der Ausstellung beauftragten Holzer Kobler das Büro iart interactive.
Rundgang durch die Evolutionsgeschichte
Die Ausstellung ist so angelegt, dass der Besucher in einem Rundgang sinnbildlich vier Gesteinsschichten durchwandert. Bereits im Foyer wird in einem dynamisch illuminierten Leuchtkasten ein Bild des für die Grube charakteristischen Ölschiefers gezeigt. Im ersten Ausstellungsraum zum Thema „Landschaft“ wird anschließend die Entstehung der Grube thematisiert, unter anderem mit einem dreizehnminütigen Spielfilm. Der nächste Raum steht unter dem Motto „Vulkanismus“: Hier findet sich der Besucher inmitten eines runden Raums virtuell auf dem Kraterwall eines Vulkans wieder, bereit für eine geologische Zeitreise. Über eine 360-Grad-Projektion wird eine Fahrt in das 433 Meter tiefe Bohrlochs simuliert. Acht Projektoren sowie verschiedene Soundsysteme vermitteln filmisch und akustisch den Eindruck, in einem Aufzug zu fahren, der in unterschiedlichen Zeitaltern haltmacht, zum Beispiel bei der Entstehung des Maarsees vor 47 Millionen Jahren. In der Tiefe angekommen, können die Besucher „aussteigen“ und den 24 Meter langen, originalen Bohrkern entlang gehen, der erst im Jahr 2001 auf 433 Meter Tiefe ausgeweitet wurde. Hier werden schließlich die verschiedenen Gesteinsschichten anschaulich beschrieben.
Ein Tag im Urwald
Der dritte Raum versetzt den Besucher in einen eozänen Dschungel. Auf den Wänden sind große, silhouettenhafte Illustrationen angebracht, über die mittels verschiedener Spiegelscannersysteme animierte Projektionen wandern: So werden ausgestorbene Tiere, wie Lemuren oder Urpferdchen, und die urzeitliche Natur medial wiederbelebt. Simuliert wird in diesem „Regenwaldraum“ durch eine sich an den Tages- und Nachtrhythmus anpassenden Ton- und Lichtinszenierung ein ganzer Tagesablauf im Urwald. Der letzte Raum schließt ab mit der Evolutionsgeschichte und zeigt, wie heutige Tier- und Pflanzenarten von den Urtieren abstammen. Hier befindet sich auch das Herzstück der Ausstellung, in der einige ausgewählte originale Fossilienfunde aus der Grube Messel gezeigt werden. Das Primatenfossil Ida sucht man jedoch vergeblich. Dieses befindet sich inzwischen in Oslo, wo es im dortigen Naturkundemuseum ausgestellt ist.
Gestein als zentrales Motiv
Weitere Informationen erhalten die Besucher über klassische Bildschirme oder auch über diverse Touchscreens. Ein Highlight ist dabei die sogenannte „Schaupräparation“: Über einen Monitor kann die Präparation eines Fossils anhand eines Mikroskopbildes live verfolgt werden. Auch die meterhohen, farbenfrohen Illustrationen der Zürcher Agentur Visual Dope, die mittels Negativ-Schablonen direkt auf den Beton aufgebracht wurden, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Das Gesteinsmotiv findet sich nicht nur in der Architektur, sondern auch im gesamten Inneneinrichtungskonzept wieder: Von den kristallin geformten Vitrinenkörpern über die versetzt integrierten Einbauten bis hin zum Farbkonzept, das von den vielfältigen Nuancen der Gesteinsschichten inspiriert ist und sich vom nüchternen Sichtbeton abhebt.
Dass die Grube Messel nun über ein repräsentatives Besucherinformationszentrum verfügt und nicht zu einer von Europas größten Mülldeponien wurde, ist in erster Linie einer Bürgerbewegung zu verdanken, die rund zwanzig Jahre gegen die eigentlichen Pläne des Landes kämpfte, die Grube Messel mit Müll aufzufüllen. An diese bewegte Vergangenheit erinnert architektonisch nur noch die große Rampe, die eigentlich zur Müllverladung dienen sollte, nun aber in das Gebäude integriert wurde. Die Ausstellung dagegen zeigt diese Geschichte anhand einzelner Exponate im Foyer sowie anhand eines Spielfilms, der im ersten Raum des Rundgangs gezeigt wird. Dieser stellt den Kampf der Bürgerinitiative für die Erhaltung der Fossiliendfundstätte an Originalschauplätzen mit Schauspielern nach und sorgt unterdessen mehr für Ärger als für Freude. So erklärte Margit Oppermann, Mitbegründerin der Bürgerinitiative und fünfzehn Jahre lang deren Vorsitzende, gegenüber der Frankfurter Rundschau, der Film sei „aufgezogen wie eine Soap-Opera“. Auch zur Eröffnungsveranstaltung sollen die Mitglieder der Bürgerinitiative nicht eingeladen gewesen sein. Damit schreibt das Land Hessen leider ein eher unrühmliches Kapitel in der an sich langen und spannenden Geschichte der Grube Messel.
FOTOGRAFIE Jan Bitter, Holzer Kobler Architekturen
Jan Bitter, Holzer Kobler Architekturen
Links
Grube Messel
www.grube-messel.deLandau + Kindelbacher Architekten
www.landaukindelbacher.deHolzer Kobler Architekturen
www.holzerkobler.chiart interactive
www.i-art.chVisual Dope
www.visualdope.comMehr Projekte
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