When less isn't more
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Menschentrauben – Touristen und andere Neugierige – strömen aus der U-Bahn-Station Weinmeisterstraße. Genau diesen Ort in Berlin-Mitte hat sich der mallorquinische Schuhhersteller Camper ausgesucht, um ein Hotel samt Restaurant zu eröffnen: die Casa Camper. Von außen ein unspektakulärer rechtwinkeliger Klotz, der eigentlich nur durch die mit Zimmernummern versehenen Fenstern auffällt, leuchtet der Bau an der Straßenecke Rosenthaler- / Weinmeisterstraße in goldenen und weißen Tönen. Im Parterre kann der Gast im Restaurant „Dos Palillos“ speisen, das die französischen Designer-Brüder Ronan und Erwan Bouroullec gestaltet haben.
Wer nun aber erwartet, dass hier Erinnerungen an den letzten Spanien-Urlaub aufgefrischt werden können, liegt falsch: Statt schnöder Bocarones, Papas bravas, Oliven oder Albóndigas im rustikalen Ibero-Stil werden im Restaurant asiatisch angehauchte Tapas in kühl-sachlicher Atmosphäre kredenzt. Ausgedacht hat sich das kulinarische Konzept Albert Raurich, ehemaliger Chef de Cuisine im Restaurant „El Bulli“ des katalanischen Meisterkochs Ferran Adrià. Raurich engagierte Bernhard Mundig als Chefkoch in Berlin, der zuvor Sous-Chef im mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurant „Vendôme“ in Köln war.
Tischlein deck dich!
Der Gästetisch im Restaurant erstreckt sich fast über die gesamte Länge des Raums. Gefertigt aus einem einzigen Eichenstamm und an den Seiten als gestalterischer Clou leicht in die Höhe gezogen, stehen davor aufgereiht die Sitzgelegenheiten. Und zwar nur auf einer Seite des Tischs, so dass der Gast mit dem Rücken zu den raumhohen Fenstern der Straßenfassade sitzt, was sicherlich nicht jedem gefallen wird. Dem Gast gegenüber angeordnet ist die vollkommen aus Edelstahl gefertigte, offen angelegte Küche. Diese räumliche Disposition ermöglicht es dem hungrigen Besucher, den Köchen beim Werkeln, Kochen und Anrichten zuzuschauen. Und anders als üblich, sind es hier auch die Köche, die den Gästen das vielgängige Degustationsmenü servieren.
Die Designer erklären das Konzept folgendermaßen: „Natürlich sollte die Küche das Zentrum des Raums darstellen und deshalb musste sie weit offen sein. Es war für uns auch wichtig, einen Dialog zwischen den zehn Köchen und ihren etwa dreißig Gästen herzustellen, die in die Küche des Chef de Cuisine eingeladen werden.“ Tatsächlich steht der Dialog mit der Küchencrew im Mittelpunkt: Die Köche erläutern ihre Kreationen und gehen breitwillig auf Fragen ein – die extrovertierteren scheinen den Kontakt mit den Gästen regelrecht zu genießen. Um diese Interaktion zu fördern und das Auge nicht zu überfordern, wurden bewusst nur wenige Elemente, Materialien und Farben eingesetzt. Ob dieses Weniger auch ein Mehr ist, sei dahingestellt: Manch einer mag sich vielleicht an eine Kantine erinnert fühlen, was auch an dem relativ kühlen Licht liegen mag, das über dem langen Tisch in einer schmalen Holzrahmenkonstruktion untergebracht ist.
Bitte setzen!
Platz nimmt der Gast auf dem, ebenfalls von den Bouroullec-Brüdern entworfenen und vom italienischen Hersteller Magis produzierten „Steelwood Chair“. Dessen Gestell besteht aus lackiertem Stahlblech, während der Sitz und die Beine aus weiß lackierter, massiver Buche gefertigt sind. Möchte man zu mehreren Personen im „Dos Palillos“ speisen und sich unterhalten, kann man aber auch an einem konventionellen Tisch sitzen. Diese Sitzgelegenheiten sind allerdings so unambitioniert im Raum platziert, dass dem Besucher der Blick auf die Showküche verwehrt bleibt. Stattdessen schaut er auf einen silber-goldenen Vorhang, der schlichtweg aus Rettungsfolie besteht und eines der Hauptgestaltungsmittel des Interieurs ist. Gebrochen wird diese minimalistische Gestaltung nur durch die Auswahl des Geschirrs: Die Frau des Chefkochs, eine Japanerin, hat es persönlich in ihrem Heimatland ausgesucht. Besonders ansprechend sind die gehämmerten Bestecke und die handgeformten und bemalten Keramikgefäße.
Bedienen Sie sich doch!
Eine andere gastronomische Besonderheit erwartet den Besucher im siebten Stock des Hotels, allerdings nur zugänglich für Hotelgäste: eine Snackbar und Lounge namens „Tetenpié“. Neben plüschigen Ohrensesseln, Zeitschriftenständern und W-Lan-Zugang nehmen die Hotelgäste hier das Frühstück ein. Das eigentlich Besondere am Konzept dieser Lounge – von der sich durch die raumhohen Fenster ein wunderbarer Blick über die Stadt bietet – besteht darin, dass man sich hier mit kostenlosen Snacks, Salaten und Getränken versorgen kann. Und das 24 Stunden lang, weshalb es in den Hotelzimmern auch keine Minibars gibt. Bei einem Preis von knapp 200 Euro für eine Nacht im – zugegebenermaßen recht geräumigen – Doppelzimmer nimmt sich diese Zusatzleistung allerdings auch nicht mehr so besonders aus. Und vielleicht möchte der neugierige Berlin-Besucher sein Geld auch lieber in den umliegenden Cafés und Restaurants ausgeben. Die Zeit wird es zeigen.
FOTOGRAFIE T. Bach, P. Tahon/ Bouroullec, M. Tewes
T. Bach, P. Tahon/ Bouroullec, M. Tewes
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