Wohnhaus als Food-Labor
Maison Melba von Atelier L’Abri in Quebec

In der kanadischen Region Eastern Townships entstand die „Maison Melba“ – ein Hybrid aus Wohnhaus, Atelier, Werkstatt und Genuss-Labor. Atelier L’Abri hat den Umbau einer Siebzigerjahre-Garage mit skandinavischen und französischen Einflüssen gemeistert.
Im Südosten von Montreal liegt das Dorf Frelighsburg. Im Tal schlängelt sich der Pike River, darüber erhebt sich der Pinnacle Mountain in 712 Meter Höhe. Die Region Eastern Townships ist bekannt für ihre zahlreichen Obstplantagen. Vor allem Äpfel werden in allen Formen kultiviert und zu Cider, Essig oder Marmeladen verarbeitet. Genau dort hat für den Unternehmer Simon Desmarais ein neuer Lebensabschnitt begonnen. 2020 fuhr er mit seinem Rennrad auf der Melba Road in Richtung der US-amerikanischen Grenze nach Vermont. Als er eine kleine Blumenfarm passierte, fiel ihm ein Haus ins Auge, das zum Verkauf stand.
Neue Gemeinschaft
Der frühere Besitzer hatte eine Sammlung von Oldtimern auf dem Grundstück ausgestellt. Dazu errichtete er in den Siebzigerjahren eine Garage, die eine Dekade später von einem Wohnhaus flankiert wurde. Hinzu kam eine Werkstatt zur Möbelherstellung sowie zur Restaurierung seiner rollenden Preziosen. Simon Desmarais erwarb die Immobilie – nicht nur als privates Refugium, sondern um daraus einen Ort zu machen, den er mit anderen teilen kann. Die Maison Melba dient heute als Wohnhaus, Atelier, Werkstatt und kulinarischer Produktions- und Versammlungsraum in einem. Der Umbau wurde von Atelier L’Abri aus Montreal geplant. Die Leitung des Projekts lag in den Händen der jungen Österreicherin Pia Hocheneder, die 2019 in dem Büro als Praktikantin begann und keine 18 Monate später, mit gerade 28 Jahren, die Verantwortung für die Maison Melba übernahm.
Hölzerne Nuancen
Ruhe, Klarheit und viel Licht bestimmen die Innenräume. Der rustikale Charme, den die mit Kebony-Kiefer verkleideten Fassaden und das mit dunkelbraunen Blechen gedeckte Dach entfachen, muss draußen bleiben. Die Böden sind mit Douglasie-Dielen von Dinesen belegt, die eine markante Maserung besitzen und sich dennoch aufgrund ihrer hellen Tonalität zurücknehmen. Deutlich wärmer in ihrer Farbwirkung sind die Rahmen der Fenster und Türen aus weißer Eiche von Internorm. In Cremeweiß oder Dunkelrot gehaltene Leinenvorhänge von Bisson Bruneel sorgen für spannungsvolle Faltenwürfe. Sie dienen keineswegs nur als Sonnenschutz, sondern bedecken mitunter ganze Wände, um so die Akustik der Räume zu verbessern.
Putz als Gemälde
Die Wände wurden mit Kalk verputzt. Sie definieren einen neutralen, aber dennoch alles andere als sterilen Hintergrund. Die Ausführung der Arbeiten wurde Carol-Anne Poirier übertragen, die zusammen mit ihrem Team 1.600 Stunden damit verbrachte, die Wände der Maison Melba zu beschichten. Die Putzoberflächen besitzen eine matte, samtige Struktur, die mit dem Blickpunkt changiert und so eine lebendige Wirkung erzielt. „Das Ergebnis ist wie ein großes, gebürstetes Gemälde, auf dem sich das Licht entfaltet und dem Raum Wärme und Sanftheit verleiht“, erklärt die junge Kanadierin, die zur Vorbereitung auf das Projekt mehrere Monate nach Frankreich fuhr, um dort bei einem Meister die Kunst des Gipshandwerks zu verfeinern.
Brückenschlag nach Europa
Die Möblierung folgt einer skandinavischen Ästhetik, die Purismus mit Sinnlichkeit in Einklang bringt. Im Homeoffice wird der Swivel Chair 452 von Vipp mit einem Tisch von Dinesen kombiniert, auf dem die Tischleuchte Vipp 591 Sculpture ruht. Im maßgefertigten Regal von Atelier L’Abri zieht die Como Table Lamp SC53 von &Tradition (Design: Space Copenhagen) die Blicke auf sich. Der runde Esstisch mit Sockel aus plissierter Eiche wird mit Stühlen kombiniert, die ebenso aus der Cabin-Kollektion von Vipp stammen. In der Werkstatt ist die Pendelleuchte Ambit von Muuto (Design: TAF Studio) zu sehen.
Einen Schwenk nach Frankreich vollziehen im Wohnzimmer vier Togo-Sessel von Ligne Roset (Design: Michel Duraroy). Lokale Bezüge werden durch einen Teppich von Mark Krebs aus Toronto und Vasen von Ema Ceramics aus Montreal eingebunden. In der größten Stadt Quebecs ist auch die Möbeldesignerin Clara Jorisch ansässig. Bei ihrem großen Pouf im Wohnzimmer wird die Sitzfläche von Seilen eingeschnürt, sodass eine unregelmäßige Deformation entsteht, die Assoziationen an „Bondage“ mit ihrem genauen Gegenteil verbindet: wohnlicher Gemütlichkeit.
Geschmackliche Experimente
In der früheren Garage ist nun die Cuisine Melba eingezogen, die für Kochabende und verschiedene Veranstaltungen genutzt werden kann. Dazu gibt es neben einer offenen Küche einen großen Holztisch, an dem zehn Gäste Platz finden. Der Ort soll auch als Inkubator für Start-up-Unternehmen aus der Lebensmittelverarbeitung fungieren, die dort an neuen Rezepten und kulinarischen Ideen arbeiten können. „Die Küche ist mit neuesten Qualitätsgeräten ausgestattet. So kann man eine breite Palette von Gourmet-Produkten wie Eiscremes oder Marmeladen herstellen oder einfach an der Entwicklung und Forschung arbeiten“, erklärt Simon Desmarais. Im Obergeschoss steht ein Büro zur Verfügung, das von einem Schlafzimmer, Umkleideraum, Dusche und Bad ergänzt wird und sich so als kleine Wohnung nutzen lässt.
Verschmelzung mit der Natur
Im Außenbereich der Maison Melba wird in einem Gewächshaus sowie im eigenen Garten Gemüse angebaut. In den weiteren Außenbereichen hat die Landschaftsarchitektin Marylie Dion vom Büro Écomestible aromatische Pflanzen wie Echinacea, Salbei, Thymian, Zitronenmelisse und Agastache gesetzt. „Anschließend haben wir einen Garten mit Blaubeeren, Zedern, Himbeeren und vielen anderen Sorten angelegt, die Vögel anlocken, sodass wir sie beobachten können“, erklärt Marylie Dion. Mit der Zeit werden die Holzplanken der Fassade von Braun zu Grau wechseln. Die ehemalige Garage kann so in Ruhe altern – eingebettet in eine Oase aus Flora und Fauna.
FOTOGRAFIE Alex Lesage Alex Lesage
Projekt | Maison Melba |
Ort | Frelighsburg, Quebec, Kanada |
Entwurf | Atelier L'Abri |
Projektteam | Pia Hocheneder, Vincent Pasquier, Nicolas Lapierre, Francis Martel-Labrecque |
Größe | 450 Quadratmeter |
Fertigstellung | 2023 |
Möbel | Vipp, Clara Jorisch, Atelier Vaste, Ligne Roset, Montauk, Mark Krebs, Frama |
Beleuchtung | Santa & Cole, Flos, Muuto, &Tradition, Barn Light |
Sanitär | Ramacieri, Argelith, Laufen, Duravit, Systempool, AeT Italia |
Fußböden | Dinesen |
Kamin | Stûv |
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