Die Plausibilität des Stuhls
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„Ein guter Stuhl ist ein guter Stuhl.“ Was so einfach klingt, reicht doch viel tiefer: Lange vor dem gegenwärtigen Boom limitierter Editionen hat der amerikanische Künstler Donald Judd die Grenze zwischen Kunst und Design präzise unter die Lupe genommen. Und zwar aus purer Erklärungsnot. Auch wenn er mit seinen gestapelten Boxen in der Kunstwelt hohes Ansehen genoss, wurden seine Möbelentwürfe in denselben Kreisen stets kritisch beäugt. Zu Unrecht, wie die Retrospektive von Judds gestalterischen Arbeiten, die derzeit in der Neuen Sammlung in München zu sehen ist, unter Beweis stellt.
„Sind Stühle oder Gebäude nicht funktional, sondern erscheinen sie nur wie Kunst, sind sie lächerlich.“ Diese Worte stammen nicht von Dieter Rams, sondern von einem Künstler, der souverän eine zweite Karriere als Möbelgestalter einschlug: Donald Judd. Der Vorreiter des Minimalismus hat auf diese Weise nicht nur das Spektrum seiner eigenen Arbeit erweitert. Um sich dem Design zu widmen, musste er die Grenze zur Kunst erst einmal präzise definieren.
Am Anfang kam das Bett
Dass sich Judd mit dem Design von Möbeln auseinanderzusetzen begann, geschah keineswegs freiwillig. Als er 1973 von New York ins texanische Marfa zog, benötigte der er neue Stühle, Tische sowie ein Kinderbett für sein Wohnhaus und Atelier, das er in der verschlafenen Kleinstadt erworben hatte. Da er weder in Marfa noch im Umkreis von 20 Meilen Möbel fand, die seinen Vorstellungen und Ansprüchen gerecht wurden, entschloss er sich kurzerhand, diese selbst zu entwerfen und anzufertigen. Den Anfang machte das Bett für seine beiden Kinder, das er aus einfachen Brettern aus Kiefernholz zusammenzimmerte.
Da der örtliche Holzhändler die Bretter lediglich kürzen, jedoch nicht auf andere Art bearbeiten konnte, nahm Judd das Standardmaß des Holzes mit einer Breite von zwölf Zoll als Grundmodul. Anders als bei seinen künstlerischen Arbeiten wurden so die Begebenheiten des Ortes zur Vorraussetzung für seine Möbel. Erst später arbeitete Donald Judd mit einem Tischler zusammen, der die Möbel exakt nach seinen Vorgaben anfertigte. Zu seinen Entwürfen aus Holz kamen auch Arbeiten aus Metall, darunter Aluminiumbleche in unterschiedlichen Farben sowie Kupfer und Bronze, die Judd – analog zum Holz – von lokalen Händlern zu organisieren versuchte.
Trennung statt Transfer
Auch wenn Möbel in den achtziger Jahren eine immer stärkere Rolle in seiner Arbeit einnahmen, endeten die ersten Gehversuche mit einer Bruchlandung. Als Donald Judd in den späten sechziger Jahren von einem Sammler gebeten wurde, einen Couchtisch zu gestalten, wollte er anfangs eine seiner künstlerischen Arbeiten – ein schlichter Würfel aus Sperrholz – durch die Absenkung einer Abdeckung verfremden. „Damit entwertete ich die Arbeit und produzierte einen schlechten Tisch, den ich später wegwarf“, kommentierte Judd, der nach diesem missglückten Versuch zunächst alle weiteren Designprojekte einstellte.
Auch wenn sein Interesse an Architektur und Möbeln in den folgenden Jahren anhielt und er weiterhin Ideen in seinem Skizzenbuch notierte: Erst die Unmöglichkeit, passende Möbel zu finden, brachte Donald Judd auf den Weg zur Gestaltung zurück. Dass er seine Entwürfe diesmal nicht frei, sondern aus den konkreten Bedürfnissen seines Hauses entwickelte, gab den entscheidenden Impuls: Sein Ansatz lag fortan nicht mehr im Transfer als vielmehr in einer klaren Trennung zur Kunst, die Judd nicht nur konzeptionell, sondern auch räumlich vollzog. Es war ihm wichtig, dass seine Stühle, Tische und andere Gebrauchsgegenstände nicht gemeinsam mit seinen künstlerischen Arbeiten in einem Raum gezeigt werden.
Trennung zur Kunst
„Bei einem Stuhl liegt die Kunst nicht in seiner Ähnlichkeit zur Kunst, sondern zum Teil in seiner Plausibilität, Zweckdienlichkeit und Maßstäblichkeit als Stuhl“, erklärte Judd, warum Design mit Kunst nicht verwechselt werden sollte. Liege die Intention eines Möbels darin, eine bestimmte Funktion zu erfüllen, könne ein Kunstwerk allein der Durchsetzung persönlicher Interessen dienen. „Ein Kunstwerk existiert an sich, ein Stuhl existiert als Stuhl an sich“, brachte Donald Judd in seinem Essay „Eine gute Lampe ist schwer zu finden“ 1993 auf den Punkt, mit dem er auch die Produktionsbedingungen von Möbeln auf kritische Weise durchleutete.
Den Fehler für sein anfängliches Scheitern sah Judd in der Absicht, „etwas so Außergewöhnliches zu schaffen, wie es ein Kunstwerk meiner Meinung nach sein sollte“. Ein Kunstobjekt in Design zu verwandeln, war er sich sicher, kann über Formalismus nicht hinauskommen. Schließlich ist das Design auf eindringliche Weise mit den Maßen des menschlichen Körpers verbunden: „Aber die Möbel entwickelten sich langsam neu, als ich mich zwanglos mit ihrer Realität auseinandersetzte ... Die besonderen Umstände brachten allmählich jene allgemeingültigen Formen hervor, die auf direktem Weg nicht abgeleitet werden konnten“, wurde sich Judd bewusst.
Überwindung des Plüsch
Die Ausstellung in der Münchner Neuen Sammlung vereint nicht nur die in kleiner und kleinster Auflage produzierten Arbeiten aus Holz und Metall, sondern ebenso Prototypen, die teilweise von Judd selbst gebaut und bisher nur selten oder noch nie außerhalb seines einstigen Apartments in der New Yorker 101 Spring Street oder der heutigen Kunststiftung in Marfa gezeigt wurden. Als spannend erweist sich zugleich die Erweiterung des Kontexts: Denn die Möbel von Donald Judd werden nicht isoliert gezeigt, sondern in Verbindung mit Arbeiten anderer Designer, die er besonders schätzte – darunter Produkte von Charles und Ray Eames als auch Elektrogeräte von Braun.
Den Vorwurf, dass seine Möbel unbequem und daher nicht funktional seien, ließ Donald Judd unterdessen nicht gelten. Die Sehnsucht nach Gemütlichkeit führte er auf die bürgerliche Vorliebe für prall gepolsterte, viktorianische Möbel zurück, die die eigentlichen menschlichen Bedürfnisse in seinen Augen verklären: „Ich finde die Möbel bequem“, antworte Donald Judd auf die Kritik mit leichtem Trotz und erklärte weiter: „Es ist besser, ein Bett zu bauen, als einen Schlafstuhl oder eine Wohnmaschine zu produzieren. Zum Essen oder Schreiben eignet sich ein gerader Stuhl am besten. Die dritte Haltung wäre das Stehen“.
„Donald Judd – A good chair is a good chair"
noch bis zum 9. Oktober 2011 in der Neuen Sammlung in der
Pinakothek der Moderne in München
Links
Die Neue Sammlung
www.die-neue-sammlung.deDonald Judd Foundation
www.juddfoundation.orgMehr Stories
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