Alles Rhabarber
Die Neuheiten vom Salone del Mobile 2024
Die 62. Mailänder Möbelmesse (16. bis 21. April) generierte mächtig Knautschzone – mit fast schon clownesk übersteigerten Referenzen an die Siebzigerjahre. Statt der Feingliedrigkeit des Midcentury dominierten voluminöse, fette Formen. Boldness ersetzte Bravheit. Statement folgte auf Understatement.
Es war voll in Mailand: auf der Messe wie in den Showrooms und Ausstellungen in der Stadt. 361.417 Besucher*innen kamen allein in die Pavillons der Fiera Milano vor den Toren der lombardischen Metropole, rund 100.000 mehr als 2022. Gegenüber dem Vorjahr betrug der Zuwachs 17 Prozent. Damit lag die Messe nur noch leicht unter dem Wert von 2019 mit 386.000 Besuchern, als allerdings auch die obere Ausstellungsebene mit vier weiteren Hallen bespielt wurde. Und so wurde es eng: Auf den Ständen, auf den Gängen. Ohne Vorabregistrierung und Schlangestehen ging kaum etwas. Das Design-Fieber hatte alle erfasst.
Raumschiff Wohnen
Vor allem aus China, Deutschland, Spanien, Brasilien und den USA kamen mehr Besucher*innen. Und die konnten erleben, wie eine neue Stufe des Komforts erklommen wurde. Denn Polstermöbel sind offenbar nicht nur zum Sitzen da. Sie können eine Knautschzone definieren, die auf physischer und mentaler Ebene gleichermaßen funktioniert. Sessel und Sofas wirken wie aufgeblasen – und zwar so sehr, dass sie jeden Moment zu platzen drohen. Dicke Watteschichten schmiegen sich um den Körper, als wären sie Schutzanzüge. Möbel werden als Airbags interpretiert, die Sicherheit auf allen Ebenen garantieren sollen. Das Wohnzimmer wird in eine bequeme Überlebenskapsel verwandelt.
Lockruf der Siebziger
Die Einrichtungsobjekte sind Protagonisten, wollen herausstechen, anstatt eine neutrale Masse im Hintergrund zu definieren. Dafür werden die Formen zum Fließen gebracht – durch Rundungen, die massiv, prägnant und ein Stück weit übertrieben wirken, wie bei den Arbeiten von Hannes Peer und Giampiero Tagliaferri für Minotti oder Francesco Rota für Meridiani. Atelier Oï setzt mit dem Programm DS-888 Collina für De Sede auf den Aspekt der Veränderlichkeit, indem verschiebbare Lehnen am Rand amöbenhafter Sitzflächen gleiten können. Selbst Metall-, Glas- und Holzelemente basieren auf Kreissegmenten, wie bei den Beistelltischen Lokum von Sabine Marcelis für Acerbis. Die stilistischen Referenzen werden vollends auf die Siebzigerjahre verschoben. Dabei dürfen die Vorbilder nicht fehlen: Arbeiten von Joe Colombo (Tacchini), Carlo Scarpa (Cassina) und Verner Panton (Amini) werden neu aufgelegt. Und auch der Retro-Designer der Neunzigerjahre, Karim Rashid, feiert ein Revival mit Entwürfen für Bonaldo und Natuzzi.
Sofas als Bühne
Der Mut zum Wulst wird mit subtiler Ironie getragen. Nicht selten lassen die Polstermöbel an die Fett-Skulpturen von Erwin Wurm denken. Atelier Biagetti hat das Sofa Chatty entworfen, das an eine groß skalierte Nackenstütze für Langstrecken-Flüge erinnert – nur mit dem Unterschied, dass das Accessoire der Economy-Klasse hier für das Modehaus MCM zur Luxus-Wattewolke wird.
Transformation heißt die von Dirk Schönberger gestaltete Kollektion dreier Sofas von Vetsak, für die ausrangierte Nylon-Jacken von Aspesi in bunte Patchwork-Bezüge upgecycelt wurden. Wie ein Stapel übereinander gestapelter Kissen wirkt das Sofa Pillo für Knoll International. Der Entwurf stammt von Willo Perron, der nicht nur als Möbeldesigner tätig ist, sondern auch die Sets für Bühnenshows von Rihanna entwirft. Drama und Komfort sind keine Widersprüche, sondern liegen näher als gedacht.
Soziales Sitzen
An vielen Ständen fielen große, ringförmige Sofas ins Auge, deren Sitzflächen nach innen gerichtet waren. Sie erinnerten an die Conversation Pits der Kalifornischen Moderne, nur dass sie nicht in den Boden abgesenkt wurden, sondern auf ihm standen. Das Möbel definiert einen Raum im Raum und löst sich von den Wänden – wie bei Simposio von Studiopepe für Saba oder Siwa von Altherr Désile Park für COR. Ganz im Sinne der Siebziger ist die Rückkehr der Sitzlandschaft als Metaebene über dem Boden.
Aus Polsterbausteinen mit Dreiecksprofil setzt sich das Sofa Peaks zusammen, das Yves Behar für Moooi gestaltet hat. Ein passgenaues Sondermodul ist mit einem Touchscreen von LG ausgestattet und kann beliebig in oder auf der Landschaft platziert werden. Für das Outdoor-Programm Insula von Kettal ließ sich Patricia Urquiola von den traditionellen Sitzgelegenheiten arabischer Majlis inspirieren, wo sich die Familie versammelt und Gäste bewirtet werden. Ergo: Niemand sitzt heute mehr allein.
Leckere Nuancen
Wer über die Siebziger spricht, muss auch über Farbe sprechen. Und davon gab es viel zu sehen. Auffällig war ein Dunkelrot-Orange-Ton, der Assoziationen an Rhabarber, Waldfrucht-Konfitüre, Terrakotta oder Burgunderweine weckte. Hinzu gesellten sich Kastanie und Schokolade. Es sind warme, gebrochene Nuancen, die den Wohlfühl-Faktor der fetten Formen maximieren und zugleich die plakative Direktheit von leuchtendem Rot, Orange oder Gelb vermeiden. Schließlich sollen diese Möbel viele Jahre im Gebrauch bleiben und man darf sich nicht zu schnell daran sattsehen. Die leckeren Farben durchbrechen die Welt aus Beige, die das Wohnen der letzten Jahre dominierte und zu Schläfrigkeit und Fadheit verdonnerte.
Neue Steinzeit
Zu den Waldfrucht-Tönen gesellte sich der omnipräsente rote Marmor, wie beim Tisch Assiale von Piero Lissoni für B&B Italia. Das schwergewichtige Naturmaterial kommt zugleich für integrierte Ablagen von Sofa-Gruppen zum Einsatz, wo es einen Kontrapunkt zu flauschigen Bouclé-Bezügen setzt. Dabei sorgt die individuelle Maserung des Marmor dafür, dass kein Möbel dem anderen gleicht. Zudem erhalten die Oberflächen mehr Tiefe. Naturstein und Holz werden mit Vorliebe bei Beistelltischen verschmolzen, die besonders nah über dem Boden schweben.
Auch Sideboards werden in ihrer Höhe abgesenkt, was ihnen eine elegante Erscheinung gibt. Ihre Ecken und Kanten sind oft abgerundet, wodurch eine formale Nähe zu den Polstermöbeln entsteht. Schränke warten teils mit gewellten Fronten auf. Selbst Konsolen – eine überaus präsente Typologie auf diesem Salone del Mobile – zeigten fließende Konturen auf und wurden so als Hingucker im Eingangsbereich in Szene gesetzt. Ein beliebtes Detail bildeten Teppiche an den Wänden. Diese durften durchaus hochflorig sein, womit sie nicht nur die Blicke auf sich zogen. Teppiche filtern Geräusche und verwandeln das Zuhause in eine Ruhezone. Ganz in diesem Sinne ging die Londoner Designerin Faye Toogood ans Werk, die für Tacchini ein fettes, zerlaufenes Sofa um Spiegel und Leuchten ergänzte, die allesamt in Watte gepackt wurden. Lärm und Ärger sollen draußen bleiben.