Knautsch & Kiesel
Die Möbelneuheiten vom Salone del Mobile 2023
Der 61. Salone del Mobile hat die Designwelt wieder in Mailand vereint. Zum ersten Mal seit der Coronapandemie fand die weltgrößte Möbelschau ohne Restriktionen statt. Die Natur trat in die heimischen vier Wände. Opulenz und Sinnlichkeit wurden selbst von Purist*innen großgeschrieben. Kuschelzonen entführten mit poppigen Elementen in kindliche Gefilde.
Der Salone ist zurück. Voll war es in der Stadt – eine aufgedrehte Stimmung durchdrang die unzähligen Showrooms und Events, mehr noch als vor der Pandemie. Auch auf dem Messegelände bildeten sich lange Schlangen. 307.418 Besucher*innen kamen in die Hallen, 15 Prozent mehr als 2022. China, wo erst im Februar die Reisebeschränkungen nach drei Jahren aufgehoben wurden, stellte nach Italien die zweitgrößte Besuchergruppe, gefolgt von Deutschland, Frankreich, den USA und Spanien, gleichauf mit Brasilien und Indien. „Die Besucherzahlen sind ein außergewöhnliches Ergebnis, für das wir hart, intensiv und radikal gearbeitet haben“, kommentiert Maria Porro, Präsidentin des Salone del Mobile.
Mehr ist wieder mehr
Möbel konnten wieder live erlebt werden. Das übertrug sich auf die Inszenierungen der Produkte: Die Stände wirkten wie Gute-Laune-Kapseln, die mit viel Farbe und Mustern die Sinne umschwirrten. Nach der extrem vorsichtigen Haltung vieler Firmen in den letzten zwei Jahren waren wieder kräftige Statements gefragt. „Boldness“ lautete das Wort der Stunde. Die Möbelformen wuchsen in ihren Volumina, Oberflächen wurden aktiviert. Selbst Minimalist*innen wechselten auf die dunkle Seite der Macht: die Dekoration. Schimmernde Materialien offenbarten eine neue Lust auf Luxus und Opulenz. Kein Schwelgen mehr im dezenten Mid-Century-Museums-Mood. Eine von poppigen Elementen durchdrungene Welt feierte das Kindliche.
Vermöbelte Kieselsteine
Hauptsache rund: Das Motiv vom Wasser rundgeschliffener Steine wird ins Wohnen übertragen. In Zeiten von Krieg und Inflation will sich niemand blaue Flecken holen. Selbst Schränke und Sideboards warten mit runden Ecken auf. Das Regal Airframe von De Castelli (Design: Pio und Tito Toso) zieht mit elliptischen Bögen die Blicke auf sich und vollzieht dabei einen Wechsel von offenen und geschlossenen Flächen aus gehämmertem Messing. Bei Kieselformen sind vor allem Polstermöbel in ihrem Element. Wie ein Haufen gestapelter Steine mutet das Sofa Figure an, das Luca Nichetto für Wittmann gestaltet hat. Auf die Liaison aus weichen Polstern und hölzernen Einschlüssen setzt der argentinische Designer Cristián Mohaded mit der Kollektion Apacheta für Loro Piana Interiors.
Wulstige Sessel
An Manschettenknöpfe aus verknoteter Seide erinnert der Knitty Lounge Chair, den Nika Zupanc für Moooi gestaltet hat. Beim Sessel Shibari von Visionnaire (Design: Studiopepe) bilden Arm- und Rückenlehnen bilden lange Polsterrollen, die an der Rückseite miteinander verschlungen sind wie übergroße Seile. Sie geben dem Möbel eine dreidimensionale Oberfläche mit ungewöhnlicher Haptik. Der Sessel Tito von Draga & Aurel setzt auf voluminöse, regelrecht fette Formen wie auch der Sessel Cinnamon, den Naoto Fukasawa für Molteni&C gestaltet hat. „Die Inspiration kam aus dem Gefühl, in eine weiche Umarmung gehüllt zu sein, wie in einem aufblasbaren Ring zu schweben, während die Arme auf der Wasseroberfläche treiben. Eine einfache, aber gemütliche Form, in der sich der Körper wohlfühlt“, so der Japaner über seinen Entwurf. Ergo: Selbst Purist*innen tragen plötzlich ganz dick auf.
Alles mit Knick
Doch nicht nur Volumen zählt bei Polstermöbeln. Immer mehr Arm- und Rückenlehnen gleichen Kissen, die so ausladend sind, dass sie nach unten gedrückt werden müssen, um auf ihnen die Arme abzulegen oder sich anzulehnen. Ganz neu ist die Idee nicht. Francesco Binfaré hatte sie bereits 2011 für Edra mit dem Programm Sfatto präsentiert. Doch nun mischen alle anderen mit. Patricia Urquiola zeigt das Sofa Moncloud für Cassina. Piero Lissoni vertechnisiert das Prinzip. Statt die Biegung durch bewegliche Polsterfüllungen zu erzielen, setzt der Mailänder Gestalter auf eine versteckte, innenliegende Mechanik. Geknautscht wird übrigens auch im Schlafzimmer. Die Kopfstütze des Bettes Sumo (Design: Piero Lissoni) von Living Divani lässt sich für jede Betthälfte getrennt nach hinten knicken. Schließlich soll kein Streit entstehen.
Mut zur Verwegenheit
Bei so viel Knautschzone ist es gar nicht leicht, anzuecken. Konstantin Grcic ist es dennoch gelungen, mit dem Sessel Twain für Magis – einem Gemeinschaftsprojekt mit Hella Jongerius. Deren Handschrift zeigt sich vor allem in den Bezügen, die wie ein Patchwork aus kleinen und großen Quadraten in verschiedenen Farben wirken, jedoch in einem Stück gewebt sind. Wie beim berühmten Safari Chair von Kaare Klint aus dem Jahr 1933 (produziert von Carl Hansen & Søn) wird das Möbel von vier Holzfüßen getragen. Grcic verwendete gedrechselte Spindeln, die mit ihren runden Knäufen und zwischengelagerten Kugeln wie Bauelemente für Weihnachtsfiguren aus dem Erzgebirge wirken. Die Krönung ist jedoch ein Zurrgurt mit Ratsche, der die vier Füße umspannt und so der Holzkonstruktion zusätzliche Stabilität verleihen soll. Der Clou: Der Gurt wirkt wie ein aufgesetztes, dekoratives Element. Und vielleicht ist er das sogar. Genau in dieser Ungewissheit liegt der Charme des Entwurfs. Er spielt mit dem Bösen – der vermeintlichen Nutzlosigkeit des Details.
Neue Romantik
Gemusterte Stoffe sind auf dem Vormarsch. Selbst puristische Labels wie e15 überraschen mit figürlichen Bezügen. Pouf und Sessel aus der bestehenden Serie SF06 Kerman warten im Bezug Tiger Mountain Graphite (von Dedar) mit Pagode und Berglandschaft im Nebel auf. Der Jacquard-Stoff Scaramouche Frozen Winter (ebenfalls von Dedar) erinnert mit seinen bunten Drachenmotiven an traditionelle, japanische Kimonos. Plissierte Fronten rücken Kastenmöbel und Tische an die Grenze zum Stofflichen. Die Vertiefungen geben den Oberflächen Taktilität, aber auch Rhythmus und Struktur. Sie changieren, wenn Licht auf sie trifft und Schatten in unterschiedlichen Längen umherwandern.
Bildhaftes im Möbelbau
Die Beistelltische Mangiafuoco von Zanetto/Bortotto verfügen über Kupferplatten, die mit glasartigen Pulvern beschichtet sind. Werden diese gebrannt, nehmen sie spannungsvolle, unberechenbare Farbverläufe an. Das Unikat im Seriellen ist auch das Thema von Gaetano Pesce. Sein Bücherregal Luigi (o mi amate voi) für Bottega Ghianda kontrastiert ein Gestell aus schwarzem Buchenholz mit klappbaren Harzböden, deren Farbverläufe durch rückseitige LEDs verstärkt werden. Mit der Kollektion OMG-GMO hat Robert Stadler für Carwan Gallery zehn handbemalte Keramikobjekte kreiert. Die Sitzfläche eines Hockers gleicht einer Wassermelonenscheibe. Die hölzernen Ablagen eines Regals werden von L-förmigen Zucchinis getragen. Radähnliche Auberginen stützen einen gläsernen Couchtisch als Referenz an Gae Aulentis Tavolo con Ruote. Stadler sieht darin einen Kommentar zur genetischen Manipulation und Perfektion von Obst und Gemüse.
Raffinierte Aufbewahrung
Ob auf dem Flur, im Entree oder im Wohnzimmer: Die Konsole erlebt ein Revival. Weil sie nicht nur hoch, sondern auch schmal ist, passt sie überall hinein. Als klassische Wandmontage mit nur einem Fuß hat sie Philippe Starck mit seiner Erweiterung der AI-Kollektion für Kartell ersonnen. Einem überdimensionalen Holzkeil gleicht Alvea von Marco Lavit für Living Divani. Doch es gibt noch eine zweite Ablageform, die auf dem Vormarsch ist: Offene oder geschlossene Schrankkuben werden in unterschiedlichen Höhen und Breiten auf einem filigranen Sideboard platziert wie beim Programm Semiton von Garcia Cumini für Arper oder Enigma von Romeo Sozzi für Promemoria. Das klassische Kastenmöbel erhält eine spielerische und schwebend leichte Wirkung.
Esstische mit Blickfang
Bei Tischen geht es nicht nur um die runde oder eckige Platte, sondern vielmehr um das Darunter. Sebastian Herkner lässt die Gestelle der Serie Gem für La Manufacture wie Steinhaufen wirken – und übersetzt damit das Kieselthema vom Polsterbereich in die Tischtypologie. Osmose von Porada (Design: Patrick Jouin) wird von unregelmäßig platzierten Füßen aus Marmor angehoben, die die Holzplatte durchbrechen und sich wie Intarsien abzeichnen. Auf ein Zusammenspiel aus Licht und Farbe setzt Rainbow von Draga & Aurel für Rossana Orlandi Gallery. Die Tischplatte aus farbigen Acrylstreifen bricht das Licht in feinen Nuancen. Als Sockel dienen weitere Acrylplatten, die diagonal gestellt von zwei Marmorstäben durchkreuzt werden. „Ich habe den Tisch Rainbow genannt, weil er wie ein Regenbogen nach einem Sturm ist. Er steht für Leichtigkeit, Entspannung und Freude“, sagt Draga Obradovic. Das Credo dieses Salone del Mobile hat sie damit treffend eingefangen.