Menschen

Patrick Jouin

Der Pariser Designer über Kopisten auf den Spuren galaktischer Bösewichte. 

von Norman Kietzmann , 14.08.2014

Patrick Jouin wandelt auf den Pfaden der Natur. Geboren 1967 in Nantes, absolvierte er sein Designstudium an der ENSCI in Paris und ging anschließend ins Büro von Philippe Starck. 1998 gründete er sein eigenes Büro in Paris und entwirft seitdem für Kunden wie Ligne Roset, Cassina, Fermob, Kartell oder Alessi. Im Frühjahr 2010 widmete das Pariser Museum Centre Pompidou Patrick Jouin die erste große Soloausstellung. Ein Gespräch über industrielles Handwerk, bewaffnete Mäzene und Kopisten auf den Spuren galaktischer Bösewichte. 

Monsieur Jouin, Sie entwerfen florale Leuchten, organische-fließende Stühle und lassen Bushaltestellen mit einem künstlichen Sternenhimmel erstrahlen. Warum spielt die Natur in Ihrer Arbeit eine wichtige Rolle?
Ich mag die Idee einer Ordnung in der Unordnung. Bäume wirken auf den ersten Blick erst einmal sehr chaotisch. Doch wenn man genauer hinschaut, bemerkt man ihre klare Struktur. Der Natur gelingt es immer, ein Gleichgewicht zwischen Symmetrie und Asymmetrie  herzustellen. Dieses Verhältnis fasziniert mich. Doch auch, wenn ich mich gerne von der Natur inspirieren lassen, möchte ich keine künstlichen Bäume oder Blätter gestalten. Es geht eher darum, die Natur zu interpretieren und damit eine menschliche Handschrift zu finden. 

Wie würden Sie Ihre Formensprache beschreiben: als puren Zeitgeist oder vielmehr als eine längerfristige Strategie?
Natürlich gibt es immer Momente, in denen man bestimmte Produkte nicht mehr sehen kann. Aber es ist unmöglich, einen Baum nicht mehr zu mögen. Das geht einfach nicht. Darum werden sich natürliche Formen länger halten – vorausgesetzt, dass sie nicht allzu sehr überzeichnet sind und die Materialien auf angenehme Weise altern können. Dass heute strenge Geometrien im Design wie in der Architektur immer mehr verschwinden, ist eine gute Entwicklung. Organische Dinge sind uns Menschen sehr viel näher, weil auch unser Körper keinen rechten Winkel besitzt.


Formen aus der Natur haben Sie vor allem mit technologisch komplexen Verfahren wie Rapid Prototyping aufgegriffen. Wie beurteilen Sie die Rückkehr zum Handwerk, die das Möbeldesign zurzeit bestimmt?
Die Beziehung zwischen Handwerk und Industrie ist sehr komplex geworden. In diesem Moment gewinnt das Handwerk, während die Industrie verliert. Die Öffentlichkeit empfindet eine offene Zurückhaltung gegenüber industriell gefertigten Objekten. Auch den jungen Designern geht es so. Die Leute haben verstanden, dass technologische oder wissenschaftliche Entwicklungen nicht automatisch glücklicher machen. Also haben sich die Hersteller und Designer von der Idee des Fortschritts abgewandt. Ein Ausweg daraus würde bedeuten, für die jeweils andere Seite zu arbeiten.

Also Industrie und Handwerk zu binden...
Ja, einerseits müssen wir Industriedesigner schauen, dass wir die Arbeit der Handwerker nicht zerstören. Gleichzeit müssen wir an einen Punkt gelangen, an dem das Handwerk die Arbeit des Designers rechtfertigt. Im Moment ist es ja genau umgekehrt. Es gibt Designer, die für Handwerker arbeiten. Und es gibt Designer, die selbst zu Handwerkern geworden sind. Beide Fälle sorgen dafür, dass wir fast nur noch Möbel aus Holz und Leder sehen. Spritzguss ist dagegen untragbar geworden, was schade ist. Denn es gibt kein menschlicheres Material als Kunststoff. Schließlich haben wir ihn erfunden (lacht).

Der Fokus aufs Handwerk ist auch mit einer Minimierung des Risikos verbunden, weil die Firmen hohe Werkzeugkosten umgehen können. 
Absolut. Ich habe gerade eine Sesselfamilie für Pedrali entwickelt. Das Unternehmen ist auf Spritzguss spezialisiert und arbeitet extrem industriell mit Schweißrobotern und Laserschneidern. Mit diesen technischen Möglichkeiten umzugehen, ist sehr spannend. Doch es macht einen immensen Unterschied in den Investitionskosten gegenüber kleinen Handwerksbetrieben, die nur Holz verarbeiten. Um diese Kosten wieder einzuspielen, müssen deutlich höhere Stückzahlen umgesetzt werden. Und ein solches Risiko wollen immer mehr Hersteller vermeiden. 

Und gehen stattdessen mit Re-Editionen auf Nummer Sicher...
Auch das ist verständlich. Wir wissen, was es an schönen Dingen in der Vergangenheit gegeben hat. Aber wir wissen nicht, was in der Zukunft schön sein wird. Dabei waren auch die Möbel von Le Corbusier zu ihrer Zeit reines Risiko. Immerhin hat es vier Dekaden gedauert, bis seine Entwürfe in den sechziger Jahren zum ersten Mal industriell gefertigt wurden. Ein anderer Weg als Re-Editionen sind Kopien – und das sogar mit dem Einverständnis der Beteiligten. Es ist doch jämmerlich, wenn jemand wie Philippe Starck seine eigenen Entwürfe für andere Marken klont. Immer mehr Designer und Hersteller verfallen dieser Gier und wandeln auf den Pfaden von Darth Vader.

Wo kann also Innovation wieder entstehen?
Auch wenn es ein wenig seltsam klingt: Vielleicht kann sogar der Staat einen Teil der kreativen Freiheit zurückbringen. In Frankreich haben wir eine lange Tradition darin. Immer wieder haben Designer wie Pierre Paulin oder Andrée Putman für die Regierung gearbeitet und die Büros von Ministern und Präsidenten eingerichtet. In den letzten Jahrzehnten ist dieser Austausch fast völlig eingeschlafen, weil die Politiker Angst hatten, dafür kritisiert zu werden. Immerhin geht es ja um den Umgang mit Steuergeldern. Doch im Moment geht diese Beziehung zwischen Staat und Design in eine neue Runde. 

Was genau meinen Sie?
Wir haben gerade das Büro des französischen Verteidigungsministers eingerichtet und dafür sämtliche Möbel neu konzipiert. Der Auftrag stammt noch von François Hollands Vorgängerregierung. Das neue Ministerium liegt an der Métro-Station Balard im Südwesten von Paris und soll 2015 eröffnet werden. Auch wenn die Möbel eine recht maskuline Seite mit schwerem Leder zeigen, sind sie niemals brutal, sondern stets sensibel. Ich hoffe, dass das Design einen Einfluss auf das Verhalten der Minister hat und sie in einem Moment der Krise zögern lässt, den roten Knopf zu drücken. Es ist ein Design für den Frieden (lacht). 

Aber worin sehen Sie die Beziehung zum Möbelmarkt? Immerhin handelt es sich ja um eine Einzelanfertigung für einen alles andere als öffentlichen Bereich.
Der Hersteller Matteograssi, mit dem wir bei der Produktion der Möbel gearbeitet haben, hat den Ministersessel ins Sortiment aufgenommen. Insofern hat die Arbeit für das Ministerium einen kreativen Freiraum geöffnet, den es sonst nur schwerlich gegeben hätte. Das Design ist ein Teil der Kultur. Und Kultur ist Weisheit. Darum ist es eine Stärke, wenn ein Land dazu in der Lage ist, seine Kultur über Möbel und Objekte auszudrücken. 

Ein Entwurf, mit dem Sie im Pariser Stadtbild einen festen Platz eingenommen haben, sind die Stationen des Fahrradleihsystems Vélib‘ (2007). 
Paris ist seitdem zur größten Turnhalle der Welt geworden (lacht). Das war natürlich ein schönes Projekt, auch wenn ich nur das System entworfen habe und nicht die Fahrräder. Das würde ich wirklich gerne einmal machen. Ein Fahrrad ist weitaus komplizierter als ein Stuhl, weil die Beziehung zwischen Objekt und Körper vollendet ist. Natürlich gibt es schon viele Fahrräder. Doch es gibt auch unglaublich viele Stühle. Es ist also immer noch einiges zu tun (lacht). 

Fahren Sie selbst mit dem Fahrrad durch Paris?
Eigentlich nie. Ich nehme immer die Métro oder den Roller. Die Einführung der Fahrräder hat in Deutschland oder Skandinavien ja sehr viel besser funktioniert. In Paris tut man sich immer noch etwas schwer damit. Seitdem das Vélib‘-System installiert wurde, hat die Aggressivität der Autofahrer abgenommen und auch die Raserei ist ein Stück zurückgegangen. Dennoch müssen wir noch viel lernen. Aber es ist spannend, zu sehen, wie ein einzelnes Objekt das Verhalten von vielen Menschen verändern kann. Es zeigt, dass wir im Zusammenleben noch einige Fortschritte machen können. 

Vielen Dank für das Gespräch.

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