Der stille Star
Nachruf auf den Mailänder Gestalter Rodolfo Dordoni

Seine Entwürfe waren puristisch. Doch sie besaßen stets den Funken des Besonderen. Rodolfo Dordoni hat die Mailänder Designszene wie kaum ein anderer seiner Generation geprägt. Am 1. August ist er im Alter von 69 Jahren verstorben. Was können wir von ihm lernen?
Mailand trauert um einen Granden. Rodolfo Dordoni (1954-2023) hat wie kaum ein anderer das italienische Design der vergangenen vier Dekaden beeinflusst. „Bestimmt“ wäre das falsche Wort. Denn Getöse oder gar Dominanz wären ihm nie in den Sinn gekommen. Er hatte eine sympathische, unprätentiöse Art, vermied die große Bühne, statt sie zu suchen. Dennoch war der gebürtige Mailänder anderen immer wieder ein paar Schritte voraus.
Während seines Architekturstudiums am Mailänder Polytechnikum lernte er seinen Kommilitonen Giulio Cappellini kennen. Von 1979 bis 1989 übernahm er die Artdirection von dessen väterlichem Unternehmen und verwandelte die Marke Cappellini in einen Protagonisten zeitgenössischen Designs. Mit seiner minimalistischen Glasleuchte Lumiere verhalf Dordoni 1990 dem unbekannten Leuchtenhersteller Foscarini zum internationalen Durchbruch. Ab 1997 lenkte er die kreativen Geschicke des Polsterherstellers Minotti und machte ihn zum Inbegriff der Wohn-Eleganz. Doch was ist es, das sein Werk besonders macht? Wir zeigen in sechs Lektionen, was Sie von Rodolfo Dordoni lernen können.
Der Flüchtigkeit enthoben
In den Achtzigerjahren tobte die Postmoderne in voller Wildheit. Schrille Formen und Farben dominierten. Doch Dordoni tat genau das Gegenteil. Er setzte auf leise Töne, während alles um ihn herum geschrien hat. Die Folge: Mit klaren, zurückhaltenden Formen hat er den Dingen das Verfallsdatum entzogen. Zeitlosigkeit wurde zum neuen Zeitgeist erkoren. Dabei hat ihm sein Pragmatismus geholfen. Er hielt sich an kubische Volumina. Dafür bewies er Feingefühl in den Proportionen: in Höhe und Breite einer Lehne, in Nähe oder Abstand zum Boden. Es sind fein verschobene Millimeter, die hier einen großen Unterschied machen – nicht nur formal, sondern vor allem im Komfort und im Gebrauch. Dordoni hat selbst Sesseln und Sofas in strenger Würfelform die Lizenz zum Lümmeln eingehaucht. Wilde Formengewitter durften andere entzünden.
Am Ball bleiben
Sein erster, eigener Produktentwurf ist das Sofa Cuba aus dem Jahr 1986, das bis heute von Cappellini produziert wird. Es gab zwei Richtungen vor. Zum einen die Reduktion der Form. Zugleich fand Dordoni hier sein Sujet, das keiner so beherrschen sollte wie er. Über sechzig verschiedene Modelle hat der „Meister der Sofas" in seiner Karriere entworfen. Der Zugang erfolgte durch Kontinuität. Die Dinge wurden nicht radikal neu erfunden, doch auf subtile Weise immer weiter verfeinert. Beständigkeit zeigte sich auch bei seiner Jahrzehnte anhaltenden Zusammenarbeit mit denselben Firmen. Das daraus resultierende Vertrauen minderte die Versuchung, ins Reißerische zu gehen. Dordoni hat keine One-offs entworfen. Er hat in Design-Familien, in Zusammenhängen gedacht. „Alles ist ein work in progress“, brachte er sein Credo auf den Punkt.
Kollektionen statt Einzelstücke
Seit 1997 war Rodolfo Dordoni als Artdirector für Minotti tätig und entwarf fast alle Produkte. Mit seinem Gespür für zurückhaltende Formen und feinsinnige Details hat er das Unternehmen zu einer weltweit bekannten Marke gemacht. „Als ich bei Minotti begonnen habe, habe ich ihnen vorgeschlagen, nicht in einzelnen Produkten, sondern vielmehr im Kontext von Produkten zu denken. Es ging also nicht mehr um das Sofa, sondern um das Gefühl eines Hauses, in dem sich das Sofa befindet“, sagte Rodolfo Dordoni. Der Kollektionen-Gedanke der Mode wurde somit in die Designwelt transferiert. Er hat auf grundlegende Weise verändert, wie Möbelfirmen heute denken und agieren – nämlich stets in ganzen Welten. Statt wie früher allein Polstermöbel, Schränke oder Leuchten zu produzieren, wird nun das gesamte Portfolio abgedeckt. Das Design ist damit architektonischer geworden: Produkte werden nicht mehr für sich betrachtet, sondern stets in eine räumliche Umgebung eingebettet. Aus Egostars sind Teamplayer geworden.
Eigene Stoffe kreieren
Die Reduktion der Form erhöht die Sensibilität für Materialien. Vor allem bei Sofas spielen taktile Qualitäten eine wichtige Rolle. Dordoni schlug Minotti vor, eigene Bezüge produzieren zu lassen. „Wir verbringen fast dieselbe Zeit, die wir am Design der Möbel arbeiten, mit dem Entwerfen der Stoffe und Farben. Für jede Kollektion ein Jahr. Indem die Stoffe exklusiv und nicht bei anderen Herstellern erhältlich sind, erhalten die Sofas ihre eigene Identität“, erklärte Rodolfo Dordoni. Auch hierbei wurde eine Strategie aus der Mode ins Design übertragen. Allerdings nicht, um modische, sondern um zeitlose Dinge zu kreieren: Die Farben und Muster wechseln nicht abrupt, um das Alte ad acta zu legen und Neues zu verkaufen. Vielmehr gehen die Paletten in feinen Nuance-Abstufungen ineinander über, sodass Stücke aus unterschiedlichen Kollektionen zueinander passen.
Gespür für feine Unterschiede
Stil ist ein Gefängnis. Wer immer das Gleiche tut, ist irgendwann bewegungsunfähig. Dordoni hat sich nie auf eine Handschrift festgelegt. Auch wenn er als Artdirector für Minotti tätig war, arbeitete er dennoch für zahlreiche andere Firmen. Manche von ihnen – wie Cassina, Poliform oder Molteni&C – sind direkte Konkurrenten. Das mag redundant erscheinen. Doch Dordoni besaß das Talent, sich in die Firmen hineinzuversetzen. Wie ein Maßschneider konzipierte er Produkte, die seinen Kund*innen auf den Leib geschneidert waren. Sie passten perfekt, aber nur ihnen, nicht den anderen Kund*innen. Dennoch waren die Dinge nicht austauschbar, sondern besaßen stets einen eigenen Charakter.
Nicht einengen lassen
Auch wenn die Sofa-Typologie zweifelsohne seine Stärke war, ließ sich Dordoni nicht in seiner Bandbreite beschneiden. Er entwarf Töpfe und Geschirr für knIndustrie, in die er seine Erfahrungen als begeisterter Hobbykoch einbrachte. Dasselbe galt für seine Küchenmodelle für Ernestomeda (Indoor) und Kettal (Outdoor). Er gestaltete mehrere Sauna-Familien für Effe, Armaturen für Nobili oder Sonnenbrillen für Kartell. Doch sein schönster, letzter Entwurf ist eine kabellose Leuchte. Sie trägt den Namen Fleur und wird von Foscarini produziert. Im Grunde handelt es sich um eine kleine Vase, die mit einem transparenten Zylinder aus Borosilikatglas auf dem Tisch oder Sideboard aufsitzt. Der Clou: Die Blumen werden von einem ringförmigen Aufsatz gehalten, in den LEDs und Akku unsichtbar integriert sind. Eine poetische, kleine Lichtquelle – so subtil und feinsinnig wie ihr Gestalter. Rodolfo Dordoni wird der Designwelt fehlen.
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