Der Design-Rebell
Nachruf auf den Gestalter Gaetano Pesce
Gaetano Pesce ließ sich nicht fassen. Er war, wie sein Name, ein Fisch. Er schlüpfte immer wieder aus den Fängen der Industrie und ihrem Drang nach Kommerzialität. Gaetano Pesce tat stets das Gegenteil. Und doch hat er viele Mechanismen heutiger und zukünftiger Produktionen vorweggenommen. Am 3. April ist er im Alter von 84 Jahren in seiner Wahlheimat New York gestorben.
„Design kommuniziert durch konkrete Bilder und nicht durch Abstraktion“, war Gaetano Pesce überzeugt. Gestaltung sollte für ihn nicht nur praktisch und funktional sein, sondern eine Bedeutung haben. Die Idee zu seinem bekanntesten Entwurf – dem 1969 vorgestellten Sessel UP5_6 von B&B Italia – kam ihm unter der Dusche. Er griff einen Schwamm und drückte ihn zusammen. Als er die Hand öffnete, nahm der Schwamm wieder seine ursprüngliche Größe an. Und so ersann der studierte Architekt ein Möbel, das auf dieselbe Weise schrumpfen und wachsen konnte.
1968 lag der Aspekt der Veränderlichkeit auf der Hand, als Pesce in Paris lebte und die Studentenrevolte aus nächster Nähe erlebte. Er übertrug den revolutionären Zeitgeist in den Möbelbau. Und tatsächlich waren die ersten Exemplare von UP5_6 alles andere als statisch. Das aus Polyurethan gefertigte Möbel wurde in PVC-Folie vakuumverpackt als kompaktes Paket geliefert. Sobald dieses geöffnet wurde und in Kontakt mit der Luft kam, wuchs der Sessel wie von Geisterhand auf seine stattlichen Dimensionen an.
Unikat in Serie
Auch danach experimentierte Pesce weiter mit neuen Materialien und Produktionsmethoden. Vor allem Harz zog ihn in den Bann, das fließende Formen und transparente, sich gegenseitig überlagernde Farbstimmungen erlaubte. Dabei tat er das, was im Design eigentlich verpönt war: Er löste sich von dem Gedanken, Dinge industriell zu reproduzieren, und richtete sein ganzes Tun auf die Rückbesinnung zur Individualität. Sein Ziel waren nicht Einzelstücke, sondern in Serie produzierte Unikate. Dieses Streben nach Vielfalt sollte sich als roter Faden durch sein gesamtes Werk ziehen.
Sinn für Falten
Der Sessel Sit Down (1975) für Cassina wurde auf identische Weise ebenfalls aus Polyurethan gefertigt. Die zerknautschte Form sorgte für unberechenbare und von Möbel zu Möbel höchst unterschiedliche Faltenwürfe. Und beim kokonartigen Sessel Feltri (1987, Cassina) kann die Rückenlehne aus dickem Wollfilz und einer bequemen Steppdecke individuell von den Nutzer*innen verstellt werden. Damit nahm Pesce den heutigen Trend zur Mass Customization vorweg. Auch dachte er die Potenziale des 3-D-Drucks voraus, lange bevor dessen technische Umsetzung möglich erschien. „Wir können uns nur dann mit anderen Menschen austauschen, wenn wir nicht derselben Meinung sind. Aus diesem Grund kann auch der Standard kein Ziel in der Gestaltung mehr sein“, glaubte der italienische Designer, der 1983 nach New York zog und dort sein Studio unterhielt.
Jenseits vom Standard
„Ich denke, wir leben nicht mehr in der Zeit der Kopien, sondern in der Zeit der Originale. Das knüpft zugleich an eine Vergangenheit an, als auch die Kunst ausschließlich aus Unikaten bestand“, so Gaetano Pesce, der 1939 in der italienischen Hafenstadt La Spezia geboren wurde und 1959 bis 1965 in Venedig Architektur studierte. „Der Übergang zu einem Nicht-Standard muss nicht heißen, dass die Preise nach oben gehen. Ich bin aus diesem Grunde absolut gegen die Leute, die heute mit limitierten Editionen oder Einzelstücken arbeiten. Das ist nicht der Weg in die Zukunft, sondern zurück zur Tradition“, erklärte Pesce 2010. Doch genau von jenen künstlich verknappten Stückzahlen konnte auch er sich nicht befreien. Sie waren immer ein Weg, seine Entwürfe zugänglich zu machen. Mit dieser Widersprüchlichkeit musste und konnte einer leben, der sich selbst nicht an Regeln hielt.
Mut zum Figürlichen
Schon der Sessel UP5_6 trug anthropomorphe Züge – und erinnerte dabei an frühzeitliche Darstellungen von Fruchtbarkeitsgöttinnen. Die Sitzfläche glich einem großen Schoß. Der runde Hocker wirkte mit seiner Leine wie eine Fußfessel, die die Frau mit sich trug. Komfort und Gesellschaftskritik gingen so locker Hand in Hand. Auch später baute Pesce in viele Entwürfe figurative Elemente ein: von einem Gesicht auf einer Stuhllehne über einen Schrank mit der Silhouette eines menschlichen Körpers bis hin zu einem Tisch für eine Tanzkompanie, der von Ballerina-Schuhen und Geigen angehoben wurde. Das Sofa- und Sesselprogramm Montanara (2009) für Meritalia konzipierte Pesce als Collage von fotorealistisch bedruckten Stoffen. Die Rückenlehne ist einem schneebedeckten Gipfel nachempfunden, die Sitzfläche wirkt wie ein tiefblauer Bergsee, der in einen mächtigen Wasserfall übergeht. Als Armlehne dienen von Bäumen bewachsene Gebirgsformationen. Das Möbel wird als landschaftlicher Hybrid verstanden, der die Ästhetik bunter Urlaubspostkarten in eine dreidimensionale Form übersetzt. „Ich denke, es ist wichtig, dass wir als Designer die Menschen zum Lachen bringen“, sagte Gaetano Pesce einst.
Bühne der Mode
Gerade in den letzten Jahren ist die Aufmerksamkeit ihm gegenüber wieder gestiegen. In einer Zeit, in der Möbel und Interieurs vollends in einen beigen Einheitsbrei abdriften, wirken Pesces Entwürfe fast noch radikaler als zu ihrer Entstehungszeit. Cassina legte 2022 das Sofa Tramonto a New York in einer Edition von fünfzig Exemplaren neu auf. Der Entwurf aus dem Jahr 1983 formt aus Sitzkissen, Arm- und Rückenlehnen eine angedeutete Skyline von Hochhäusern, hinter der eine stilisierte, orangerote Polster-Sonne untergeht. Für die Modenschau der Frühjahr-Sommer-Kollektion 2023 von Bottega Veneta fertigte Gaetano Pesce vierhundert Stühle aus Kunstharz an, die in ihren Farben changieren, sodass kein Objekt mit dem anderen identisch ist. Die Models liefen direkt auf dem Fussboden, den Pesce mit Kunstharz in sinnlichen Farben übergießen ließ: ein Motiv, das der Wahl-New-Yorker bei vielen seiner Innenraum-Gestaltungen verwendet hatte.
2023 hat die Möbelmanufaktur Bottega Ghianda das Regal Luigi (o mi amate voi) aus dem Jahr 1982 aufgelegt. In die tragende Struktur aus schwarz gebeiztem Buchenholz sind farbige Böden aus Harz eingelassen, die von unsichtbaren LEDs zum Leuchten gebracht werden. Die unregelmäßigen Farbverläufe der Harzmischungen werden umso stärker herausgestellt. 2024 kehrt der Möbelhersteller Meritalia auf die Milan Design Week zurück, freiredend gleich mit drei Neuauflagen von Gaetano Pesce, darunter die modulare Polsterserie La Michetta (2005) und der herrlich zerknautschte Sessel Shadow (2007).
Seiner Zeit voraus
„Er war spielerisch bis zur Verantwortungslosigkeit und doch durch und durch politisch. Er liebte es, Menschen glücklich zu machen, aber auch, sie zu verärgern. Er sprach von Design als einer intimen Angelegenheit und einer Bombe im Gehirn“, schreibt die New Yorker Galerie Salon 94, die viele Werke Gaetano Pesces vertreibt, zu seinem Tod am 3. April 2024. Mit der Bereitschaft, alles infrage zu stellen, wird er der Designwelt fehlen. Doch längst hat er junge Gestalter*innen animiert, nach neuen Wegen zu suchen. Das von Pesce proklamierte „Unikat in der Serie“ steckt zwar noch in den Kinderschuhen. In der Produktion von morgen wird es aber wahrscheinlich zum Standard werden. Der große Traum des Design-Rebellen geht damit in Erfüllung: Das Repetitive war einmal.