Gaetano Pesce
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Gaetano Pesce macht die Serie zum Unikat. Geboren 1939 im italienischen La Spezia, studiert er 1959 bis 1965 Architektur in Venedig und zählt 1959 zu den Gründungsmitgliedern der Künstlergruppe Gruppo N. Dem Design wendet er sich in den späten sechziger Jahren zu und schafft mit seinem Sessel Up (1969) den Durchbruch. Wird dieser vakuumverpackt als flaches Paket geliefert, das erst nach dem Öffnen der Verpackung selbstentfaltend seine endgültige Form annimmt, schlägt Pesce ab den siebziger Jahren eine zunehmend radikalere Richtung ein. Lange vor dem gegenwärtigen Boom limitierter Editionen experimentiert er mit Kleinserien und handwerklichen Produktionsmethoden, um selbst in Serie hergestellte Entwürfe in Unikate zu verwandeln. Anstelle von geometrischer Perfektion wird das Zufällige und Unperfekte zum Teil seiner Entwürfe. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen der Sessel Sit down (1979), das Sofa New York Sunset (1983), die Stehleuchte Moloch oder das Regal Carenza, das in der Ausstellung Italy: The New Domestic Landscape 1972 im New Yorker Museum of Modern Art gezeigt wird. Nach Stationen in Mailand, Marseille und Paris zieht er 1980 nach New York, wo er bis heute lebt und arbeitet. Wir trafen Gaetano Pesce in Mailand und sprachen mit ihm über die Mutation des Designs, chinesischen Ungehorsam und das Ende der Abstraktion.
Herr Pesce, bereits seit den späten sechziger Jahren suchen Sie nach einem Design jenseits uniformer Massenproduktion und experimentieren mit ungewöhnlichen Produktionsmethoden. Warum hat die Standardisierung für Sie ausgedient?
Das liegt in der Betrachtung der Zeit. Natürlich war die Standardisierung zu Beginn der Industrialisierung wichtig, weil sie vielen Menschen ein besseres Leben ermöglicht hat. Doch heute reicht das nicht mehr. Wir sind gelangweilt davon, überall dieselben Produkte zu sehen und sogar überall dasselbe anzuziehen. In Ländern wie China hat man über viele Jahre versucht, dies politisch zu verordnen. Das eigentlich Deprimierende daran war, dass man sich davon erhoffte, auch die Gedanken der Menschen in eine Richtung zu lenken. Glücklicherweise ist dieser Wunsch nie Wirklichkeit geworden. Denn in dem Moment, in dem wir alle dasselbe denken, haben wir uns nichts mehr zu sagen. Wir können uns nur dann austauschen, wenn wir anderer Meinung sind. Aus diesem Grund kann auch der Standard kein Ziel in der Gestaltung mehr sein.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Ich denke, wir leben nicht mehr in der Zeit der Kopien, sondern in der Zeit der Originale. Das knüpft zugleich an eine Vergangenheit an, als auch die Kunst ausschließlich aus Unikaten bestand. Mit der Technologie, die uns heute zur Verfügung steht, ist die Qualität des Originalen nicht nur Königen, Prinzen und Päbsten vorbehalten, sondern für jeden von uns zugänglich. Der Übergang zu einem Nicht-Standard muss nicht heißen, dass die Preise nach oben gehen. Ich bin aus diesem Grunde absolut gegen die Leute, die heute mit limitierten Editionen oder Einzelstücken arbeiten. Das ist nicht der Weg in die Zukunft, sondern zurück zur Tradition.
Warum?
Weil ihre Arbeiten – auch wenn sie auf zehn oder fünfzehn Exemplare begrenzt sind – immer Kopien von ein- und demselben Entwurf bleiben. Das ist nicht interessant. Ich spreche dagegen von einer Auflage von mehreren tausend Stücken, die dennoch alle unterschiedlich sind. Die Zukunft der industriellen Produktion liegt darin, Unikate in Serie herzustellen anstatt von Kopien.
Können Sie ein Beispiel geben?
Der Sessel Sit Down, den ich 1975 für Cassina entworfen habe, war so angelegt, dass jedes Exemplar zum Schluss ein Einzelstück war. Auch wenn die Polsterung durch denselben Prozess und aus denselben Materialien entstanden ist, ist die Anmutung des Faltenwurfs sehr unterschiedlich. Für den Sessel Senza Fine, den ich 2010 auf der Mailänder Möbelmesse vorgestellt habe, haben wir ebenfalls eine neue Technologie verwendet. Eine Maschine bindet ein Kabel aus Silikon so, dass sie automatisch unterschiedliche Formen erzeugt und jedes Objekt so zu einem Einzelstück macht. Wenn jemand dieses Produkt kauft, erwirbt er automatisch ein Unikat. Das ist dasselbe wie in der Natur: Keine Frucht und kein Lebewesen gleicht dem anderen. Sie sind sich ähnlich, aber niemals identisch.
In der Natur entsteht Vielfalt durch kontinuierliche Mutation. Wie soll die im Design möglich sein?
Indem ein Entwurf nicht als starre, abgeschlossene Form betrachtet wird, sondern als offener Prozess. Das gibt den Spielraum, damit zum Beispiel die Arbeiter, die an der Herstellung eines Produktes beteiligt sind, dessen Farbe und Form leicht variieren können. Auch der Konsument spielt hierbei eine wichtige Rolle. Für den Schuhhersteller Melissa habe ich beispielsweise einen Schuh entworfen, der von den Käufern zerschnitten und ihrem eigenen Geschmack angepasst werden kann. Aus der Universalform lässt sich je nach Bedarf ein Stiefel, ein Ballerina oder was auch immer machen. Danach ist es kein Schuh mehr von Melissa oder mir, sondern von derjenigen Person, die ihn gerade trägt. Ich denke, es ist wichtig, andere am Prozess der Kreativität teilhaben zu lassen. Denn Kreativität ist kein Privileg von wenigen, sondern etwas, das jeder besitzt.
Also wird das Unvollendete zum gestalterischen Leitbild, das erst durch den Konsumenten vervollständigt wird?
Ja, selbst in der Architektur findet man dafür gute Beispiele. Die Ponte Vecchio in Florenz besteht aus einer Mutter-Struktur, also dem Standard, die über die Jahre an beiden Seiten von Händlern mit Geschäften dicht bebaut wurde. Darüber wurde später noch eine weitere Schicht an Wohnungen gesetzt. Sie alle folgen keinem Standard und doch ist es ein wunderschönes Bauwerk geworden. Ein anderes Beispiel dieser Strategie finden Sie im heutigen China. In den New Territories um Hongkong wurden in der Vergangenheit unzählige monotone Wohntürmen gebaut, die über Standard-Apartments von sechzehn Quadratmetern Grundfläche verfügen. Doch die Verantwortlichen haben die Kreativität der Chinesen unterschätzt. So sind in der Nähe dieser Viertel Märkte entstanden, auf denen die Menschen Elemente aus Metall und Beton kaufen können, um damit ihre Wohnungen zu vergrößern.
Wie soll das funktionieren?
Sie bauen aus diesen Teilen an der Außenseite der Fassaden eine Plattform, die sie mit drei Wänden umschließen und über ihr Fenster betreten. Auf diese Weise können sie einen weiteren Raum dazugewinnen. Wenn einem nur sechzehn Quadratmeter zugestanden werden, sind drei bis vier zusätzliche Quadratmeter eine enorme Verbesserung. Indem die Menschen auf diese Weise in die Fassade intervenieren, werden die Gebäude Stück für Stück deformiert. Die Standarisierung weicht plötzlich einem Ausdruck von unterschiedlichen Bedürfnissen, Geschmäckern und Ausdrucksformen. Ich finde das sehr schön, weil es zeigt, dass sich das Leben nicht in starre Raster zwängen lässt.
Aber wird Architektur damit nicht vollständig dem Zufall überlassen?
Warum denn nicht? Ich habe zum Beispiel ein Wohngebäude in Sao Paulo entworfen: Es ist bewusst keine Stapelung von ein und demselben Grundriss sein, sondern soll auf jeder Etage unterschiedlich und von einem anderen Architekten gestaltet sein. Das Gebäude wird auf diese Weise zu einer Stadt, die Fragmente unterschiedlicher Ausdrucksformen, Kreativität und wirtschaftlichen Möglichkeiten vereint. Erst in dieser Vielfalt repräsentiert die Stadt die Menschen und ihre Geschichte.
Was spricht gegen die klare Form?
Die Architektur kommt traditionell aus der Abstraktion, die sich durch klare geometrische Formen wie Dreieck, Quadrat oder Kreis ausdrückt. Doch diese Zeit ist vorbei. Wir leben in einer Realität, in der der Ausdruck durch Figur erfolgt und damit durch Bilder. Der Computer ist heute das wichtigste Werkzeug geworden und die Sprache des Computers sind Bilder. Reine Geometrie dagegen ist als Ausdrucksform begrenzt. Schauen Sie sich zum Beispiel ein Bett an: Warum muss es immer ein steriles Objekt sein? Ein Bett ist doch ein fantastischer Ort, in dem wir schlafen und Sex haben. Warum dürfen wir darüber nicht sprechen und müssen die Identität des Gegenstandes hinter größtmöglicher Abstraktion verstecken? Erst wenn wir die Abstraktion überwinden, können wir uns mit anderen darüber austauschen. Sonst versteht doch niemand, worüber wir sprechen.
Wie wichtig ist dabei die Ironie: Ihr Sofa Montanara zum Beispiel haben Sie als dreidimensionale Fototapete entworfen, die alpine Gipfel und reißenden Wasserfälle in die heimischen vier Wände holt.
Ich denke, es ist wichtig, dass wir als Designer die Menschen zum Lachen bringen. Auch wenn das Leben manchmal schwierig ist, sollten wir das nicht aus den Augen verlieren. Vielleicht lenkt diese Ausrichtung die Aufmerksamkeit ein wenig weg von Details, Geometrie und Eleganz, die für mich allesamt Begriffe von gestern sind. Die Gegenstände müssen nicht perfekt sein, wenn sie Sinnlichkeit vermitteln.
Was bedeutet für Sie Schönheit?
Es gibt keine universelle Idee von Schönheit mehr. Die Realität wird von unterschiedlichen Werten bestimmt, vor allem auch von Gegensätzen. Das ist gut, denn wenn jeder eine unterschiedliche Vorstellung von Schönheit hat, können wir darüber sprechen. Schönheit liegt für mich in der Summe der Unterschiede.
Sie selbst sind 1980 nach New York gezogen. Warum?
Weil New York eine Stadt ist, die den Menschen dient und nicht umgekehrt. Man findet alles, ohne sich beeilen zu müssen, weil die Geschäfte nicht gleich schließen. In London zum Beispiel ist am Sonntag alles geschlossen. Und selbst am Samstag haben die Geschäfte dort noch vor wenigen Jahren früh zu gemacht. Das ist keine Stadt, die einen beim Leben hilft, sondern man selbst muss der Stadt beim Leben helfen. New York ist eine Stadt, in der man sich nicht anzupassen braucht. Man lebt seinen eigenen Rhythmus.
Vielen Dank für das Gespräch.
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Gaetano Pesce
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