Neustart in Mailand
Streifzug durch die Milano Design City 2020
Salone del Mobile 2020? Ausgefallen. Fuori Salone 2020? Nachgeholt – wenn auch im deutlich kleineren Format. Die italienischen Möbelmarken zeigen während der Milano Design City (28.09.-10.10.20) ihre Neuheiten in den Showrooms der Stadt – und stellen den Digitalauftritten der vergangenen Monate wieder physische Erlebnisse gegenüber.
Es geht auch ohne Tamtam. Vom wuseligen Flair einer typischen Salone-Woche ist an diesen Tagen in der Mailänder Innenstadt natürlich nicht zu sprechen. Statt entspannt von einem Ort zum anderen zu ziehen, galt es vorher, minutiös einzuhaltende Termine zu vereinbaren – schließlich dürfen Corona-bedingt nur wenige Besucher gleichzeitig in die Showrooms eintreten. Dadurch stellt sich ein durchgehendes Gefühl der Leere ein, obwohl die Termine ausgebucht sind. Cocktailempfänge oder Partys müssen ausfallen – ebenso wie die spektakulären Inszenierungen, die in den Mailänder Palazzi normalerweise abgehalten werden.
Die Unternehmen nutzen ihre eigenen Räume, um zumindest einen Teil der ursprünglich für April geplanten Neuheiten zu zeigen, von denen viele aufgrund des Lockdowns nicht fertig, dann verschoben oder ganz abgesagt wurden. All die Auto-, Schmuck- und sonstigen Lifestyle-Marken, die sich in den vergangenen Jahren an das weltgrößte Designevent angedockt haben, bleiben fern. Und das ist nicht das Schlechteste. Die Milano Design City, so der Name des neuen Formats, ist übersichtlicher und fokussierter geworden. Keine Zeit für Firlefanz – ein Umstand, der auch für die Art der Inszenierungen gilt.
Im Sog des Echten
Selbst Marken, die über weitläufige Räume verfügen, lassen den Showfaktor außen vor. Die Möbel werden in natürliche Umgebungen eingebunden: Fast so, als würde man im 30-Minuten-Takt eine Reihe von Hausbesuchen absolvieren und sich jeweils von einem Zimmer ins andere führen lassen. Die Dinge in echt zu sehen, macht tatsächlich Freude. Wie groß ist häufig die Diskrepanz zwischen den teils vorab verschickten Fotos und den fertigen Produkten? Möbel korrespondieren mit den menschlichen Proportionen: Sie müssen nicht nur mit den Augen betrachtet, sondern ebenso mit dem Körper ausprobiert werden. Doch keine Sorge: Vorab werden an jedem Eingang die Hände desinfiziert. Einige Gastgeber bestehen darauf, die bisher getragene Maske durch eine frisch-ausgehändigte zu ersetzen.
Fließende Konturen
Die neuen Möbel sind zwar längst vor dem Lockdown konzipiert worden. Doch tatsächlich würden viele von ihnen passende Gefährten abgeben für einen erneuten Zwangsrückzug in die heimischen Gemächer. Auffällig ist die Tendenz zu runden, voluminösen Polstern wie beim Sofa Litos von Sebastian Herkner für Cappellini oder den Sesseln Ruff von Patricia Urquiola für Moroso, Mattia von Rodolfo Dordoni für Minotti oder Lazybones von Studiopepe für Baxter. Sie umschließen den Körper wie schützende Kokons. Die wulstigen Formen lassen an die Füße, Ohren oder Rücken von Elefanten denken. Alles Kantige und Schroffe wird ausgeblendet – ein Umstand, der ebenso für Tische gilt, die vorzugsweise mit halbrunden Enden oder gleich mit kreisförmigen Zuschnitten aufwarten.
Regenerativer Eskapismus
Betten gewinnen stattliche Dimensionen. Ihre Kopfteile ragen nicht nur in die Höhe auf, sondern setzen sich ebenso in der Breite fort. Sie definieren eine Architektur in der Architektur und lassen Eskapismus mit regenerativer Körperkultur verschmelzen. Schön anzusehen sind die neuen Modelle glücklicherweise auch. Mit samtig-weichen Bezügen und zahlreichen Innentaschen wartet das Bett Bio-mbo auf, das Patricia Urquiola für Cassina gestaltet hat. Piero Lissoni umfasst das gepolsterte Kopfteil des Bettes Byron von Porro mit breiten Rahmen aus Eschenholz, die mit geflochtenem Rohr bespannt sind. Ebenfalls von Lissoni stammt der Daybed-Sofa-Hybrid Matic für Knoll International. Das Möbel spielt mit Referenzen an die Barcelona-Serie von Mies van der Rohe – lockert deren Strenge jedoch mit einer flexibel dehnbaren Rückenlehne auf, die aufrechte bis lümmelnde Sitzpositionen zulässt.
Mut zur Oberfläche
Neben dem Volumen kommt auch das Flächige groß heraus. Hingucker im Cassina-Showroom ist der Paravento Balla – ein von Futurismus-Gründer Giacomo Balla im Jahr 1917 entworfener Sichtschutz, der nun in zwei Farbversionen erstmals in Serie produziert wird. Bisazza stellt eine neue Mosaik-Serie mit Motiven von Piero Fornasetti vor, die allesamt die Muse des Mailänder Illustratoren – die Opernsängerin Lina Cavalieri – zeigen: Mal ihren Mund mit leuchtend roten Lippen, mal schaut ein Auge durch ein Schlüsselloch oder das Gesicht ragt hinter unzähligen Hortensien-Blüten hervor. Auch Patricia Urquiola und Piero Lissoni – die beiden omnipräsenten Gestalter dieser Designwoche – widmen sich der Oberfläche beim Holzfurnier-Hersteller Alpi. Urquiola zeigt mit Grada eine geometrische Komposition, die die Strenge des Schachbrettmusters mit flirrend-feinen Farbverläufen durchkreuzt. Lissoni hat mit Honduras großformatige Mahagoni-Furniere konzipiert, die jedes Chefbüro zielsicher in die Eleganz der Mad-Men-Ära beamen.
Ab in die Siebziger
Eine wichtige Referenz sind die Siebzigerjahre. Sie zeigen sich bei den eingangs erwähnten voluminösen Polstermöbeln heutiger Designer. Doch sie dienen ebenso als Trumpfkarte im Spiel der Reeditionen: B&B Italia legt anlässlich des 50-jährigen Bestehens den Sofaklassiker Camaleonda von Mario Bellini neu auf, dessen Polstermodule sich mit Ösen und Karabinerhaken beliebig verbinden lassen. Ebenfalls von Bellini stammt die Stehleuchte Chiara (1969) mit Fuß und Schirm aus schimmernder Metallfolie, die bei Flos in einer neuen LED-Ausführung sowie in einer kompakteren Tisch-Version vorgestellt wird. Passend zum 100. Geburtstag von Vico Magistretti zeigt Cassina das Maralunga Sofa (1973) in dem exklusiv von Kvadrat gefertigten Stoff Otterlo Stripes, der mit seiner samtig-weichen Oberfläche und subtilen Nadelstreifen den fluiden Charakter des Möbelstücks betont.
Inszenierungen in der Stadt
Die Siebzigerjahre lässt Dimoremilano – das Möbellabel der Dimorestudio-Gründer Britt Moran und Emiliano Salci – mit stilistischen Einflüssen aus der Art-déco-Ära verschmelzen. Die Präsentation findet direkt gegenüber der Dimoregallery in einer herrschaftlichen Wohnung in der Via Solferino statt. Wenige Schritte weiter zeigt die Designgalerie Dilmos die Ausstellung Babeli. Während des Lockdowns verarbeitete der Mailänder Gestalter Daniele Papuli in seinem Studio vorhandene Papiervorräte zu acht skulpturalen Vasen. Die Designgalerie Nilufar widmet Piergiorgio Robino und seinem in Turin ansässigen Studio Nucleo die Soloausstellung It’s All About Colour. Aus Anlass der zehnjährigen Zusammenarbeit werden frühere, bislang nur in Weiß erhältliche Arbeiten in leuchtenden Tönen neu aufgelegt. Dazu gesellen sich aktuelle Arbeiten wie die in schimmernden Farben leuchtende Serie Colour Lenses.
Räumliche Verwandlungen
Der Marmormöbel-Hersteller Marsotto hat einen dauerhaften Showroom am Largo Treves nach Plänen von Oki Sato und dem von ihm gegründeten Studio Nendo eröffnet. Das frühere Schaufenster eines Ladenlokals ist vollständig mit weißen Carrara-Paneelen verkleidet, die den Rhythmus der Steinfassade aufgreifen und durch eine konkave Einwölbung Platz für eine kleine Sitzbank liefern. Im Inneren führt eine Treppe hinter einer perforierten Marmorwand hinunter ins Untergeschoss, wo die Produkte auf fünf bühnenartigen Sets gezeigt werden. Eine räumliche Transformation erlebt auch der Foscarini-Showroom am Corso Monforte. Ferruccio Laviani inszeniert einen aus geschnittenen Sperrholzplatten konstruierten Märchenwald mit imaginären Riesenpflanzen. Sie bilden die passende Umgebung, um Rodolfo Dordonis Leuchte Lumiere zu ihrem 30. Geburtstag als Sonderedition in zwei dekorativen Glasoptiken vorzustellen. Ganz ohne Show geht es eben doch nicht.