Menschen

Il grande maestro

Vico Magistretti zum 100. Geburtstag

Vico Magistretti war in den Sechzigerjahren einer der wichtigen Protagonisten des fulminanten Aufstiegs des italienischen Designs. Ob Atollo, Maralunga oder Eclisse: Seine Entwürfe sind zeitlos und haben immer das gewisse Etwas.

von Claudia Simone Hoff, 29.09.2020

In Schweden, Dänemark und in Italien entstanden in den Sechzigerjahren Möbel- und Leuchtenklassiker, die noch immer omnipräsent und wegweisend sind im Interiordesign. Südlich der Alpen waren es Gestalter mit meist architektonischem Background, die die Designszene aufwirbelten – inmitten politischer, sozialer und kultureller Umwälzungen: Achille Castiglioni, Ettore Sottsass, Gio Ponti, Gae Aulenti und Vico Magistretti.

Gestalterisch durchdacht, sind ihre Möbel, Leuchten und Dekorationsobjekte immer auch mit einem Schuss Italianità versehen – einer gewissen Verspieltheit, die jedoch geschmackvoll ist. Doch was scheinbar mühelos hingeworfen wirkt, ist das Ergebnis aufwendiger Experimente – mit innovativen Materialien, Formen und Farben.

Gesamtkunstwerk
Vico Magistretti (1920-2006) war ein vielseitig begabter Gestalter: Seine streng geometrische Tischleuchte Atollo (Oluce), der filigrane Klappsessel Piccy (Campeggi) und das Sofa Maralunga mit verstellbaren Kopfstützen (Cassina) sind in die Designgeschichte eingegangen und noch heute Lieblingsstücke von Architekten und anderen Anhängern der guten Form.

Nach einem Architekturstudium am Polytechnikum in seiner Geburtsstadt Mailand heuerte Magistretti 1945 im Architekturbüro seines Vaters Pier Giulio an. Nach dessen frühen Tod führte er das Studio mit Franco Montella weiter und etablierte sich rasch in der Mailänder Architektenszene. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren entstanden Gebäude wie Torre al Parco und ein Bürogebäude am Corso Europa in Mailand sowie Privathäuser wie die Villa Arosio in Arenzano und die Villa Schubert in Ello.

Technische Raffinessen
Neben seiner Tätigkeit als Architekt begann Magistretti auch als Designer zu arbeiten, seit den frühen Sechzigerjahren beispielsweise für den italienischen Hersteller Cassina. Es entstanden Möbel wie der vor zwei Jahren wiederaufgelegte, minimalistische Stuhl 905 mit Holzgestell und selbsttragender Sitzfläche aus einem einzigen Stück Leder (1964), das Regal Nuvola Rossa in Dreiecksformen (1977) und das knautschige Sofa Maralunga (1973). Sie spiegeln Magistrettis gestalterischen Ansatz wider, bei dem sich die Form mit technischer Raffinesse paart. Das Regal Nuvola Rossa fällt auf durch eine ausgeklügelte Konstruktion, bei der die diagonalen Verstrebungen zu tragenden Elementen für die Regalböden werden, weshalb es keine Seitenwände gibt. Oder das Sofa Maralunga: Durch den Einbau einer einfachen Fahrradkette in die Polsterung lässt sich die Kopfstütze verstellen – eine Technik, die sich Cassina patentieren ließ.

Experimente mit Licht
Magistretti arbeitete in seiner langen Karriere für viele wichtige Möbelhersteller mit Designfokus, darunter Alias, De Padova, Flou, Campeggi, Schiffini, Kartell, Fredericia und Fritz Hansen. Doch es sind vor allem seine Leuchtenentwürfe für Artemide, Fontana Arte, Nemo und Oluce, mit denen er Designgeschichte geschrieben hat. Die nur knapp 20 Zentimeter hohe Tischleuchte Eclisse von Artemide aus dem Jahr 1965 zeigt, dass Funktionalität mitunter spielerisch sein kann: Das Leuchtmittel befindet sich im Kopf einer Halbkugel aus lackiertem Stahl, die von einer weiteren Halbkugel umfangen wird, die drehbar ist. Und zwar so weit, bis das Leuchtmittel nur noch teilweise oder gar nicht mehr zu sehen ist – ein manueller Dimmer sozusagen.

Neben Eclisse wurde Magistretti auch für seinen Entwurf Atollo für Oluce mit dem wichtigsten italienischen Designpreis Compasso d’Oro ausgezeichnet. Atollo aus dem Jahr 1977 gilt mit ihren klassischen Geometrien als Archetyp einer Tischleuchte und ist gleichzeitig ein Lichtexperiment: Die Halbkugel gibt kein Licht nach außen ab und beleuchtet lediglich den Kegel, während der darunterliegende Zylinder vom Licht nur gestreift wird.

Hochleben lassen
Vico Magistretti, der bis an sein Lebensende als Architekt und Designer tätig war, wäre am 6. Oktober dieses Jahres 100 Jahre alt geworden. Ein schöner Anlass, ihn und sein Werk hochleben zu lassen: Neben einer von der Fondazione Vico Magistretti konzipierten Wanderausstellung haben einige Hersteller zum Jubiläum Entwürfe von Magistretti wiederaufgelegt. Der dänische Möbelhersteller Fritz Hansen beispielsweise hat mit Vico Duo einen Stuhl neu editiert, den Magistretti 1997 – fast am Ende seiner Karriere – entworfen hat. Auch hier zeigt sich das von ihm perfekt orchestrierte Miteinander von Technik, Funktion und Ästhetik: Die Armlehnen und hinteren Beine sind aus einem einzigen Stück Stahl gefertigt, sodass der Stuhl minimalistisch wirkt und gleichzeitig einen Überraschungsmoment birgt.

Studiobesuch in Milano
Wer eintauchen möchte in das aufregende Universum des 2006 verstorbenen Architekten und Designers, kann auch sein ehemaliges Studio in Mailand besuchen. In der Fondazione Vico Magistretti in der Via Vincenzo Bellini unweit von San Babila wandelt man auf den Spuren des Maestro: zwischen Zeichnungen, Prototypen, Architekturmodellen, Fotografien und Werbeplakaten.

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Fondazione Vico Magistretti

www.vicomagistretti.it

Mehr Menschen

„Ein Schalter ist wie ein Uhrwerk“

Ein Gespräch über die Gira-Produktneuheiten mit Jörg Müller

Ein Gespräch über die Gira-Produktneuheiten mit Jörg Müller

„Alle am Bau Beteiligten haben Verantwortung“

Ein Gespräch über nachhaltiges Bauen mit Lamia Messari-Becker

Ein Gespräch über nachhaltiges Bauen mit Lamia Messari-Becker

Zwischen Euphorie und Askese

Studiobesuch bei Karhard in Berlin

Studiobesuch bei Karhard in Berlin

Die Storyteller von Södermalm

Studiobesuch bei Färg & Blanche in Stockholm

Studiobesuch bei Färg & Blanche in Stockholm

New Kids on the Block

Interior- und Designstudios aus Berlin – Teil 2

Interior- und Designstudios aus Berlin – Teil 2

„Wir müssen uns nicht verstellen“

Atelierbesuch bei Studio Mara in Berlin-Charlottenburg

Atelierbesuch bei Studio Mara in Berlin-Charlottenburg

New Kids on the Block

Interior- und Designstudios aus Berlin

Interior- und Designstudios aus Berlin

Neue Talente

Die wichtigsten Newcomer*innen des deutschen Designs

Die wichtigsten Newcomer*innen des deutschen Designs

Für die Schönheit des Planeten

Ein Gespräch über nachhaltige Möbel mit Andrea Mulloni von Arper

Ein Gespräch über nachhaltige Möbel mit Andrea Mulloni von Arper

Puzzle für die Wand

Interview mit Paolo Zilli, Associate Director bei Zaha Hadid Architects

Interview mit Paolo Zilli, Associate Director bei Zaha Hadid Architects

In Räumen denken

Vorschau auf die Boden- und Teppichmesse Domotex 2024

Vorschau auf die Boden- und Teppichmesse Domotex 2024

„Wenn man sich vertraut, kann man Kritik annehmen“

Muller Van Severen im Gespräch

Muller Van Severen im Gespräch

Conceptual Substance

Zu Besuch bei fünf crossdisziplinär arbeitenden Studios in Berlin

Zu Besuch bei fünf crossdisziplinär arbeitenden Studios in Berlin

„Ich betrete gerne Neuland“

Ein Gespräch über Akustik mit der Architektin Marie Aigner

Ein Gespräch über Akustik mit der Architektin Marie Aigner

„Mich interessiert, wie die Dinge im Raum wirken“

Peter Fehrentz im Interview

Peter Fehrentz im Interview

Sinn für Leichtigkeit

Das Designerduo Patrick Pagnon & Claude Pelhaître im Gespräch

Das Designerduo Patrick Pagnon & Claude Pelhaître im Gespräch

Experimentierfreudiges Duo

Im Designlabor von Niruk

Im Designlabor von Niruk

Perfekt im Griff

Jan Karcher von Karcher Design im Interview

Jan Karcher von Karcher Design im Interview

Eine widerständige Frau

Studiobesuch bei der Designerin Karen Chekerdjian in Beirut

Studiobesuch bei der Designerin Karen Chekerdjian in Beirut

Der stille Star

Nachruf auf den Mailänder Gestalter Rodolfo Dordoni

Nachruf auf den Mailänder Gestalter Rodolfo Dordoni

Das Beste aus zwei Welten

Jungdesignerin Anna Herrmann im Porträt

Jungdesignerin Anna Herrmann im Porträt

Klasse statt Masse

Urlaubsarchitektur-Gründer Jan Hamer im Gespräch

Urlaubsarchitektur-Gründer Jan Hamer im Gespräch

„Der Prozess wird zum Echo“

Katrin Greiling über die Arbeit mit gebrauchtem Material

Katrin Greiling über die Arbeit mit gebrauchtem Material

„Bugholz ist eine Diva“

Designer Marco Dessí über den Polsterstuhl 520 für Thonet

Designer Marco Dessí über den Polsterstuhl 520 für Thonet

Material matters

Bodo Sperlein und seine Entwürfe für den gedeckten Tisch

Bodo Sperlein und seine Entwürfe für den gedeckten Tisch

Der Geschichtenerzähler

Ein Gespräch mit dem Pariser Innenarchitekten Hugo Toro

Ein Gespräch mit dem Pariser Innenarchitekten Hugo Toro

Wie es Euch gefällt

FSB-Co-Chef Jürgen Hess über den neuen Mut zur Farbe

FSB-Co-Chef Jürgen Hess über den neuen Mut zur Farbe

„Ich liebe es, mit Licht zu arbeiten“

Designer Michael Anastassiades im Gespräch

Designer Michael Anastassiades im Gespräch

Vom Pinselstrich zur Farbwelt

Kreativdirektorin Carolin Sangha über die Color Codes bei Schönbuch

Kreativdirektorin Carolin Sangha über die Color Codes bei Schönbuch

Mehr Raum für Kreativität

Visualisierungsexpertin Andrea Nienaber über die Vorteile der 3D-Planung

Visualisierungsexpertin Andrea Nienaber über die Vorteile der 3D-Planung