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Die Sitzschmiede: Interstuhl wird 50

von Tim Berge, 23.05.2011


Was hat ein Schmied mit einem Bürostuhl zu tun? In den fünfziger Jahren vollzog sich in Südwestdeutschland ein rascher Strukturwandel, bei dem sich in der Heimat des damaligen Hufschmieds Wilhelm Link und Stammvaters von Interstuhl eine florierende Textilwirtschaft entwickelte. Nicht mehr Hufeisen für die bäuerlichen Zugtiere wie Pferde und Rinder waren nun gefragt, sondern Untergestelle für Nähmaschinen und vor allem: Arbeitsstühle für die Näherinnen. Damit beginnt die Entstehungsgeschichte von Interstuhl, einem der größten Bürostuhlhersteller Europas, der dieses Jahr sein 50-jähriges Firmenjubiläum feiert und trotz internationaler Ausrichtung bis heute fest in der Region verwurzelt ist. 


Dass die Geschichte eines international agierenden Unternehmens wie Interstuhl auf der Schwäbischen Alb beginnt, ist sicherlich kein Zufall, denn gerade in der schwäbischen Region sitzen einige der wirtschaftsstärksten Unternehmen Deutschlands. Die regionale Einbindung – und damit die Identifikation der Angestellten, deren Familien und Freunde – ist ein wertvolles Gut in einer ansonsten immer gesichtsloseren, global agierenden Geschäftswelt. Die Einbindung von Interstuhl in die Region und die Verknüpfung mit der Unternehmensgeschichte könnte kaum größer sein. Zum Firmenjubiläum beschenkte das Unternehmen daher nicht nur sich selbst, sondern initiierte mit dem Interstuhl-Pfad einen öffentlichen Kunst-Wanderweg mit Ausgangspunkt Tieringen  – dem Ort, an dem der Schmied Wilhelm Link vor über 80 Jahren die Dorfschmiede übernahm.

Von der Schmiede zum Stuhlhersteller

Schon im 19. Jahrhundert begannen die Bewohner der Region um Tieringen Webereien und Spinnereien zu gründen, war doch der steinige Boden nicht wirklich geeignet für die Landwirtschaft. In den fünfziger Jahren florierte die Stoffindustrie dermaßen, dass es zu einem Versorgungsmangel an Sitzmöbeln kam. Aus diesem Engpass heraus entwickelte die Familie Link ihre Geschäftsidee, die wenig später unter dem Namen Interstuhl ihren Lauf nehmen sollte: bequeme und gesunde Stühle für den Arbeitsplatz herzustellen. Bereits 1963 – zwei Jahre nach Gründung der Firma – war die alte Schmiede, die noch immer als Produktionsstätte diente, zu klein geworden, und es wurde ein erster Neubau mit 300 Quadratmetern Produktionsfläche errichtet. Heute nehmen die Produktionsstätten ein Vielfaches dieser Fläche ein. Mit fast 600 Mitarbeitern ist Interstuhl einer der größten Arbeitgeber der Region. Die Verankerung des Betriebs an seinem ursprünglichen Standort, die Besinnung auf die identitätsstiftende Herkunft und der Bezug zum traditionellen Handwerk sind auch über die Jahrzehnte nie verloren gegangen. Noch heute werden die Stühle komplett in den eigenen Produktionsstätten gefertigt.

Der Stuhl als Werkzeug

Der Tradition, entlastende Stühle für den Arbeitsbereich zu entwickeln – mit einem Schwerpunkt auf die Bedürfnisse beim Arbeiten, Sitzen und Kommunizieren – ist Interstuhl bis heute treu geblieben. Die Geschwistermarken Prosedia und vor allem Bimos führen diese Entwicklung fort: Hier werden Stühle als Werkzeuge angesehen, die zwischen Mensch und Arbeit wirken. Und es gibt wirklich Stühle für jeden Arbeitsplatz, egal ob für das Heim-Büro, den Werkarbeitsplatz oder die sogenannten Reinräume, in denen es keine luftgetragenen Partikel – also keinerlei Staub – geben darf. Neben Sitzlösungen entwickelt Bimos auf unterschiedliche industrielle Anforderungen zugeschnittene Fußstützen und Stehhilfen. Hinzu kommen Arbeitsstühle für körperbehinderte Menschen.

Um die wissenschaftliche Weiterentwicklung voranzutreiben, gibt es firmeneigne Forschungsabteilungen. Dabei kooperiert man mit anderen Unternehmen wie dem Fraunhofer Institut. Denn das Sitzen soll kontinuierlich verbessert werden. Neue Materialien halten ebenso Einzug in die Produktion wie die aktuellsten Erkenntnisse über Ergonomie und Sitzverhalten. So entstand auch der Air Pad – ein Stuhl, dessen Rückenlehne mit einer Membran bespannt ist, die ursprünglich in der Autoindustrie als Filter eingesetzt wurde. Diese ist nicht nur luftdurchlässig und dadurch angenehm für das Rückenklima, sondern erzeugt auch ein gutes Sitzgefühl. Um den Sitzkomfort und die Sitzverträglichkeit stetig zu erhöhen, wird auch an neuen Technologien und Mechaniken geforscht. Die Transmotion- oder auch Body-Float-Synchronmechanik der Mitos- und Free Balance-Stühle sorgen für gleitende Fließbewegungen beim Zurücklehnen und unterstützen den Körper in jeder Position.

Laufend Sitzen

Der Wanderpfad bringt die Interstuhl-Philosophie auf einen Punkt: soziales und ökologisches Engagement, Einbindung der lokalen Bevölkerung und der Natur sowie ein vielfältiges Angebot an Sitzgelegenheiten. Der Wanderer soll auf dem Weg durch die Landschaft der Schwäbischen Alb über das Sitzen reflektieren, um dann immer wieder auf Objekte zu stoßen, die zum Ruhen einladen, den Blick auf die Landschaft lenken und zu unterschiedlichen Varianten des Sitzens einladen. Einige Objekte, die nach dem Vorbild traditioneller Wander-Ruhebänke gestaltet wurden, sind bereits vorhanden. Weitere sollen in den nächsten Jahren entstehen und entlang des Pfads platziert werden. Entworfen werden sie nicht nur von Interstuhl-Mitarbeitern, sondern auch von den Menschen der Umgebung und international bekannten Designern und Architekten. Die einzige gestalterische Bedingung ist die Verwendung von nachhaltigen und umweltverträglichen Materialien, sodass die Sitzobjekte in Würde altern können. Der Pfad ist an bestehende Wanderwege angeschlossen und integriert sich somit in ein bestehendes System, das Mensch und Natur zusammenbringt.

Ein Haus für den Stuhl

Bereits 2010 machte sich die Firma mit der Interstuhl-Arena ein erstes Geburtstagsgeschenk. Das Gebäude, vom Stuttgarter Architekten Werner Sobek mit entworfen, steht in Tieringen-Meßstetten und soll als „Ausstellungs- und Kommunikationsforum" der drei Marken Interstuhl, Bimos und Prosedia dienen. Entstanden ist ein Ort des Dialogs über das Sitzen  – für Architekten, Planer, Fachhändler und nicht zuletzt die Endkunden. Die Ausstellungsräume in den Obergeschossen funktionieren dabei wie eine Art introvertierter Interstuhl-Pfad: Im großzügig verglasten Erdgeschoss gelangt der Besucher vom Empfang über die Cafeteria zu einem kleinen Ausstellungsbereich, in dem die drei Interstuhl-Marken mit ihren wichtigsten Aspekten inszeniert sind. Im darüber liegenden Obergeschoss befinden sich die ebenfalls voll verglasten Büros der Unternehmensleitung, der Besucher wird dagegen in den geschlossenen "Kern" des Gebäudes geführt, wo ihn eine kleine Ausstellung über Unternehmensgeschichte und Markenidentität informiert. Von dort aus steigt er nach oben: Hier erwartet ihn hinter einer geschlossenen Aluminiumfassade die Präsentation des gesamten Interstuhl-Sortiments. Das Haus passt architektonisch perfekt in die Interstuhl-Welt: Die Ähnlichkeit der Fassade mit der Aluminium-Sitzschale des Bürostuhlklassikers Silver ist unübersehbar.

Ein ungeplantes Geschenk – zum siebzigsten Geburtstag des Seniorchefs Werner Link – war der größte Einzelauftrag der Firmengeschichte: Für den Neubau der Zayed University in Abu Dhabi wurden 19.500 Stühle bei Interstuhl geordert. Der Name des Architekten ist in der Firma nicht unbekannt: Hadi Teherani vom Hamburger Büro BRT zeichnete bereits für den Silver und die Silver-Neuedition verantwortlich und hat auch für den Interstuhl-Pfad ein Sitzobjekt entworfen. Man hat das Gefühl, dass bei dieser Firma wirklich alles in der Familie bleibt.
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