Kapoor in Berlin: Zwischen Architektur und Scheiße
Über Sex zu reden, gehört mittlerweile zur Kultur unserer Gegenwart. In öffentlichen Verkehrsmitteln, Cafés oder Restaurants kommentiert man ungeniert die jüngsten Abenteuer, gerne auch diverse Körperteile. Allein, wenn es darum geht, eine Sprache für die Arbeiten des Künstlers Anish Kapoor zu finden, vernimmt man bisweilen betretendes Schweigen. Die große Ausstellung seiner Arbeiten, die ab Samstag im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen sein wird, bietet da eine gute Gelegenheit zum Üben.
Besonders in England, wo der 1954 in Indien geborene Kapoor seit Anfang der 70er Jahre lebt, scheint die Scham das Interesse an der Beschreibung seiner Kunst zu überwiegen. Der britische Journalist John Tusa jedenfalls erwähnte in einem BBC-Interview Kapoor gegenüber die Verlegenheit ihrer Landsleute, die sie angesichts der erotisch grundierten Bildhauerei des Künstlers zu überfallen droht.
Wenn im Berliner Martin-Gropius-Bau nun eine umfassende Einzelausstellung von Anish Kapoor unter dem Titel Kapoor in Berlin eröffnet, darf man sich deshalb fragen, wie das deutsche Publikum wohl auf seine Arbeiten reagieren wird. Über 70 Exponate werden zu sehen sein, darunter einige, die Kapoor eigens für die Schau konzipiert hat. Auch den großen Lichthof bespielt er mit einer Installation (Titel: Symphony for a Beloved Sun). Immerhin – die letzte Auftragsarbeit für Berlin, die der Turner-Preisträger 2008 für das Ausstellungshaus Deutsche Guggenheim realisierte, veranlasste die Besucher, eine riesige Stahlskulptur zu betreten, in dunklen Wölbungen für einen Augenblick die Orientierung zu verlieren.
Kunst auf der Couch
Tatsächlich bedienen sich Kritiker angesichts solcher Installationen gerne einer Rhetorik, die man eher aus der Psychoanalyse kennt – von der Couch also, auf der die Krisen des Patienten auf ödipale Komplexe, anale und orale Entwicklungsstörungen zurückgeführt werden. John Tusa erinnern Kapoors Skulpturen an den Mutterleib; der Direktor des Museums Tate Modern, Chris Dercon, fragt in einem Artikel nach „Kapoors Pornography?“; Kapoor selbst beschreibt eine seiner Arbeiten als etwas „between architecture and shit“, zwischen Architektur und Scheiße. Sie besteht aus unzähligen kleinen Zementwürsten, die zu minimalistischen Türmen aufgehäuft sind.
Modernistische Architektur, sexualisiert
Auch andere Werke sexualisieren das Vokabular modernistischer Architektur und erotisieren Materialien, die man eher aus den strengen Formen rationalistischer Bauten kennt: In einem großen Stahlballon klafft ein dunkles schwarzes Loch, in einer Betonwand ein vertikaler Schlitz, über Stahlplatten legt sich rotes Wachs, zwischen Steinen klebt tiefrotes Pigment. Überhaupt dominiert die Farbe Rot viele von Kapoors Installationen. Hier schießt rotes Wachs aus einer Kanone, hinterlässt Flecken auf Wänden und Boden. Dort ist es zu einem Blood Stick – einem Phallus oder einer langen Spur – erhärtet, die sich durch mehrere Ausstellungsräume zieht.
Oskar Niemeyer pflegte den Ausdruck form follows feminine, der die Brutalität der von Kapoors Kunst geweckten Assoziationen vielleicht am besten umschreibt. Anders als etwa der Maler Gustave Courbet, der den Ursprung der Welt bekanntlich zwischen den Beinen der Frau fand, verortet Kapoor, wie eine gleichnamige Arbeit aus dem Jahr 2004 zeigt (Origine du monde), die sexuelle Begierde, die Vulva, den Ursprungsort des Menschen, im Raum und in der Architektur.
Neben skulpturalen Arbeiten aus Wachs oder Stahl sind im Martin-Gropius-Bau auch eine Reihe der Spiegel-Arbeiten zu sehen, die Kapoor immer wieder in verschiedenen Ausführungen anbietet. Sie verzerren das Spiegelbild der Kunst-Narzisse, lösen mitunter einen Spieltrieb aus, den man sonst nur bei Kindern in den Spiegelkabinetten von Disneyland beobachten kann –, die anlässlich der Ausstellung aber vielleicht auch eine Reflexionsmöglichkeit bieten, die sich der Sprache bisweilen entziehen kann.
Ausstellung Kapoor in Berlin
Martin-Gropius-Bau, Berlin
18. Mai bis 24. November 2013
Fotos:
1-4: Jens Ziehe
5 links: Dave Morgan
5 rechts: Mark Power / Magnum Photos
6: David Regen
7-9: Nic Tenwiggenhorn
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