Orgatec 2016: Strenges Spiel
Lässigkeit und Disziplin: Die Kölner Büroeinrichtungsmesse blickt auf die Arbeitswelt von morgen.

Die Büroeinrichtungsmesse Orgatec blickt auf die Arbeitswelt von morgen. Mit 56.000 Besuchern aus 118 Ländern konnte die diesjährige Ausgabe einen Zuwachs um zehn Prozent erzielen. Im Mittelpunkt standen warme Farben, haptische Oberflächen und dynamische Auftritte. Doch bei aller Lässigkeit ist auch eine neue Tendenz zu formaler Strenge zu beobachten.
Es wird gelümmelt, gekippelt und allerorts rotiert. Auf einer Orgatec geht es ganz schön sportlich zu. Kein Wunder, schließlich wollen die Hersteller von Drehstühlen die Vorzüge ihrer neuesten Kreationen sogleich vor Augen führen. Bei aller Sitzdynamik darf sogar ein wenig entspannt werden. Weil immer häufiger mit Laptop, Tablet und Smartphone gearbeitet wird, gewinnen die informellen Bereiche der Bürolandschaft wie Loungebereiche und Besprechungsinseln an Bedeutung. Und damit werden die Karten der Büroeinrichtung neu gemischt.
Das Open Office wird in eine Vielzahl kleinerer Cluster aufgeteilt, die je nach Bedarf für gemeinschaftliches oder individuelles Arbeiten geeignet sind. Die Folge: Es geht um mehr als „nur“ den klassischen Drehstuhl und verkabelten Schreibtisch. In den Mittelpunkt rücken vor allem ganzheitliche Arbeitswelten, die belebende Farbpaletten, integrierte Lichtlösungen sowie schallschluckende Akustikpaneele umfassen. Um ein Stück vom lukrativen Contract-Kuchen abzubekommen, sind zahlreiche Hersteller aus dem Wohnmöbelbereich an den Rhein gereist – und runden die atmosphärische Neuausrichtung dieser Büromöbelmesse schlüssig ab.
Wie Laissez faire am Arbeitsplatz gelingt, zeigt Konstantin Grcic mit seinem Stool Tool am Stand von Vitra. Das Kunststoffobjekt mutet wie eine zweistufige Minitreppe an, die unterschiedliche Sitzpositionen zulässt und ganz ohne komplizierte Mechanik für eine aktivierende und dynamische Sitzhaltung sorgt. Die gestaffelte Form ist einer Verschmelzung von Sitzobjekt und kleinem Tisch geschuldet, der als Ablage für Laptops oder Barhocker für erhöhte Arbeitstische dienen kann.
Dass als zukünftiges Einsatzgebiet weniger Banken und Versicherungen gelten, zeigt sogleich die Verbindung mit dem ebenfalls von Grcic entworfenen Tischsystem Hack (2015), das speziell für Start-up-Unternehmen entworfen wurde und nun die Serienreife erreicht hat. Die Arbeitsplätze werden von rohen Sperrholzplatten eingefasst und lassen sich mit wenigen Handgriffen in eine Stehlounge oder Ruhenische verwandeln oder einfach platzsparend zusammenklappen. Es ist ein flexibler, wandelbarer Entwurf, der die Ästhetik des Unfertigen zum Programm erhebt.
Zwischen Kloster und Meeting
Eine deutlich rationalere Seite präsentieren diesmal die Brüder Bouroullec mit ihrem modularen Tisch- und Sofas-System Cyl von Vitra. Naturbelassene und schwarz gebeizte Arbeitsplatten werden über zylindrische Metallschellen mit massiven, runden Holzfüßen verbunden. Passende Sofas greifen das Tischraster auf und dienen mit ihren hohen Rücken- und Seitenpaneelen als schallschluckenden Ruheinseln. Gewiss steht auch hier die wohnliche Materialität von Holz im Vordergrund. Doch alles wirkt strenger, spartanischer und prägnanter auf den Punkt gebracht. Fast so, als wäre die Möblierung eines Klosters mit den Erfordernissen der heutigen Arbeitswelt gepaart worden. Es ist spannend, dass dieser Entwurf ausgerechnet jenem Gestalterduo entsprang, das mit seiner Alcove-Serie 2006 die Ausbreitung des kuscheligen Wohlfühlbüros entscheidend vorangetrieben hat. Macht sich womöglich Ermüdung auf dem Spielplatz breit?
Dreidimensionale Beweglichkeit
Die Antwort darauf heißt: Jein. Denn je nach Typologie und Anwendung schlagen die Firmen unterschiedliche Wege ein. Auch wenn Walter Knoll mit dem Drehstuhl Leadchair Management von Eoos eine explizit wohnliche Richtung vorgibt, rücken andere Firmen die technische Funktionalität in den Vordergrund. Eine Steigerung in punkto Sitzdynamik vollzieht Wilkhahn mit dem Drehstuhl IN, der mit seinen plastisch herausgearbeiteten Hichtech-Gelenken an die Ausrüstung von Profisportlern denken lässt. Die Besonderheit des Stuhls ist seine dreidimensionale Synchronmechanik, die direkt auf eine Zentralfeder einwirkt – und selbst für wilde Akrobatik geeignet ist. Auch der amerikanische Büromöbelhersteller Haworth setzt ganz klar auf Bewegung. Gleich am Eingang des Messestands wird ein Einblick ins Innenleben des Bürostuhls Fern von ITO-Design gewährt. Unter dem Stoffbezug verbirgt sich ein elastisches Endoskelett, dessen Form an die Blätter von Farnen erinnert und ein hohes Maß an dreidimensionaler Beweglichkeit erlaubt.
Stoffliche Ruhezonen
Für die wohnliche Aufwertung des Büros spielen textile Paneele eine entscheidende Rolle. Sie halten neugierige Blicke von Schreibtischen oder freistehenden Besprechungsinseln fern. Mit ihrer stofflichen Materialität kommt Farbe und Haptik ins Spiel. Und gleichzeitig absorbieren sie den Schall und sorgen somit auch für eine angenehme Akustik. Eine flexible wie vielseitige Lösung hat Sedus mit dem System Se:wall auf der Orgatec vorgestellt. Die Paneele können entweder freistehend auf den Boden oder auf die Mitte eines großen Schreibtisches platziert werden. Ein interessantes Detail bilden die umlaufenden Aluminiumrahmen, die zur Verankerung von Ablagen oder zum Einklemmen transluzenter Glaspaneele dienen.
Schnelle Neujustierungen erlaubt hingegen das System Winea X (Design: Uwe Sommerlade) von Wini, bei dem die einzelnen Paneele durch metallene X-Klemmen miteinander verbunden werden. Einen Sprung aus der Fläche in den Raum vollzieht Brunner mit einem System Cellular vom toskanischen Designbüro Archirivolto. Die Module sind keine flachen Ebenen, sondern V-förmig gefaltete Nischen. In deren Scheitelpunkt können passgenaue Tische in unterschiedlichen Arbeitshöhen sowie gepolsterte Sessel mit einem ungewöhnlichem, dreieckigen Grundriss eingefügt werden. Das Ergebnis ist ein freistehendes Möbelsystem, das sich zu größeren Gruppen kombinieren oder einzeln im Raum arrangieren lässt.
Stoffliche Qualitäten werden auch bei den Polstermöbeln groß geschrieben. Für eher informelles Sitzen sind die bunten, kugelförmigen Poufs aus der Serie Pucca geeignet, die Stefan Borselius für den schwedischen Möbelhersteller Blå Station entwarf. Ein stählerner Ring dient hier als praktischer Haltegriff, um die Möbel von Hand zu neuen Konfigurationen zusammenzustellen. Das Polsterprogramm Tangram von Interstuhl (Design: Andreas Korb vom Schweizer Designbüro B4K) erinnert eher an die heimische Sofaecke als an wilde Spaßmöbel aus dem Google-Office. Langweilig wird es dennoch nicht. Schließlich erlauben die vier asymmetrischen Sitzecken eine Vielzahl unterschiedlicher Kombinationen zum Arbeiten, Besprechen und Entspannen. Eine geradezu raumgreifende Wirkung entfacht das Sitzsystem Corals, das Robert Bromwasser für den niederländischen Hersteller Palau entworfen hat. Gepolsterte Sitzbänke können mit hier mit Tischen, Lehnen und Schallschutzpaneelen bestückt und zu mäandernden Landschaften addiert werden.
Hybride Verbindungen
Das Prinzip der gegenseitigen Verschmelzung ist auch bei Schranksystemen und Tischen zu beobachten. „Gerade weil die Büroeinrichtung häufig einen collagenartigen Charakter besitzt, braucht es ein System, das all die Einzelteile zusammenhält“, sagt Werner Aisslinger. Für Piure hat er das Systemmöbel Mesh entworfen, bei dem Aluminiumprofile mit getönten Glasflächen und unregelmäßigen Lochblech-Paneelen verbunden werden. Das Ziel: selbst abgeschiedene Büroecken mit Tageslicht zu versorgen und die Interaktion zwischen den Mitarbeitern zu verstärken. Mit dem Fokus auf perforierte Metallpaneele ist der Berliner nicht allein. Auch das Stauraumsystem Be_Hold von Haworth bringt die lichtdurchlässigen Oberflächen zum Einsatz. Jedoch wurde hier vom Inhouse-Designteam ein weitaus eklektischerer Materialmix aus lackierten Platten, textilbespannten Rückseiten, hölzernen Ablagen und metallischen Schiebern forciert. Das Büro ist so, wie es einem gefällt. Ganz einfach.
Geweitetes Spektrum
Was bleibt von dieser Orgatec? Zum einen wird die Emotionalisierung des Büros mit Farben, Stoffen und Hölzern weiter vorangetrieben. Die Räume werden atmosphärisch aufgeladen, bleiben aber dennoch mit beiden Beinen auf dem Boden. Anstatt sich in wilden Kinderspielplätzen zu verlieren, wird die Arbeit nicht aus den Augen verloren. Es geht um langlebige Lösungen, die auch nach mehreren Jahren nicht vorschnell zum alten Eisen gehören. Dass selbst die großen Ausstatter die Befindlichkeiten von Start-ups berücksichtigen, statt sie zusammen mit etablierten Firmenkunden über einen Kamm zu scheren, ist eine vielversprechende Entwicklung. Ob allerdings eher die Jungen in Zukunft die Alten beeinflussen werden oder doch genau umgekehrt, wird sich noch zeigen. Fortsetzung folgt.
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Weitere Antworten auf die Fragen zur Arbeitswelt der Zukunft finden Sie in unserem großen Special zur Orgatec 2016.
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