Rollende Schönheiten
Seit 90 Jahren entwirft Pininfarina Träume für die Straße

Die Turiner Karosserieschmiede Pininfarina hat Designgeschichte auf Rädern geschrieben und das Automobil – vom Sportwagen bis zum Kleinwagen – in stromlinienförmiger Effizienz neu definiert. Zurzeit expandiert das Büro, das in diesem Jahr sein Jubiläum feiert, in die Gefilde der Architektur.
Es kommt nicht auf die Größe an. Pinin, der Kleine, wurde Battista Farina zeitlebens genannt. 1930 gründete der Turiner Mechaniker in seiner Heimatstadt die Carrozzeria Pinin Farina. Mit einer gewöhnlichen Autowerkstatt hatte sie allerdings wenig gemeinsam. Hier wurden keine Ölwechsel oder banalen Reparaturen durchgeführt. Hier wurden automobile Träume ersonnen. In der damaligen Zeit war es üblich, ab einer gewissen Preisklasse lediglich Fahrgestell und Motor bei den Autoherstellern zu erwerben. Die Karosserie wurde maßgeschneidert wie ein Anzug.
Und genau in dieser Disziplin wuchs der kleine Farina zu wahrer Größe heran. Er verlieh seinen Karosserien eine dynamisch-fließende Formensprache, die den Gesetzen der Aerodynamik folgte und daraus eine unverkennbare Eleganz entwickelte. Mehr noch: Er gab ihnen Charakter. Seine Sportwagen waren schnell und effizient, gewiss. Doch sie traten nie wie kraftstrotzende Bolliden in Erscheinung. Sie bewegten sich galant wie Ballerinen über den Asphalt hinweg und stellten klar, warum das Auto im Italienischen – la macchina – einen femininen Artikel trägt.
Neues Konstruktionsprinzip
Erste Erfolge brachten der 1935er Alfa Romeo 6C Pescara Coupé sowie der 1936er Lancia Astura Cabriolet Tipo Bocca, die selbst im Stehen den Rausch der Geschwindigkeit versprühten. Der 1937 vorgestellte Lancia Aprilia Aerodinamica besaß einen niedrigen CW-Wert (Strömungswiderstandskoeffizient) von 0,40 – vergleichbar mit der Windschlüpfrigkeit eines Rennrads. Interessanterweise wurde die Form allein aus dem Gefühl heraus entwickelt und nicht berechnet. Der internationale Durchbruch gelang mit dem Cisitalia 202 Gran Sport, der 1947 als erstes Auto überhaupt in die ständige Sammlung des Museum of Modern Art in New York aufgenommen wurde. Das Fahrzeug kombinierte eine Karosserie aus Aluminium mit einem Skelett aus feinem Stahlblech – und schlug damit eine ganz neue Richtung im Fahrzeugbau ein. „Ich wusste, dass die alten Formen vorüber waren. Autos müssen einfache, weiche und essenzielle Linien haben“, war Battista Farina überzeugt.
Präsidiale Intervention
1951 kam es zu einem Gipfeltreffen der besonderen Art. Enzo Ferrari, der lange als Gegenspieler von Pinin Farina wahrgenommen wurde, bat um ein Treffen. Dieses fand auf „neutralem“ Boden in Tortona statt, einer Kleinstadt auf halbem Wege zwischen Turin und dem Ferrari-Hauptsitz in Maranello. Das Angebot war ungewöhnlich: Enzo Ferrari übertrug Pinin Farina die Gestaltung sämtlicher Modelle, von denen noch im selben Jahr der Ferrari 212 und 1954 der Ferrari 250 GT lanciert wurden. Als sich Farina 1961 im Alter von 68 Jahren aus dem Berufsleben zurückzog, übernahm sein Sohn Sergio die Geschicke des Familienunternehmens. Der italienische Staatspräsident Giovanni Gronchi gab schließlich persönlich dem Antrag statt, den Familiennamen in Pininfarina zu ändern und damit auch auf dem Papier zu vollziehen, was im Sprachgebrauch längst eine Selbstverständlichkeit war.
Vom Unikat zur Serie
Sergio Pininfarina machte aus der Carrozzeria Pinin Farina eine internationale Designagentur, die der Automobilbranche bald den Ton vorgab. Ob Ferrari, Alfa Romeo, Fiat, Maserati, Chevrolet oder Peugeot: Sie standen alle bei ihm Schlange und gaben Sportwagen bis hin zu kompakten Stadtautos in Auftrag. Einzelstücke und Kleinserien wurden auch weiterhin produziert. Der Alfa Romeo 1600 Spider, der durch den Film Die Reifeprüfung 1967 weltweit Aufmerksamkeit erregte, markierte mit 140.000 Exemplaren den Sprung zur Serienproduktion. 1972 eröffnete Pininfarina als erstes Designstudio einen eigenen Windkanal, um die Kurven der Karosserien fortan nicht nur mit den Augen, sondern ebenso mit präzise bemessenen Werten optimieren zu können.
Schnell auf der Schiene
1986 ging das Unternehmen an die Börse. Gleichzeitig wurde die Marke Pininfarina Extra gegründet, um Projekte jenseits des Automobilbaus zu realisieren. Dieser Kurs wird seit 1988 von Sergio Pininfarinas Sohn Andrea und seit 2008 von seinem Bruder Paolo fortgesetzt. Einen Schwerpunkt bildet weiterhin die Mobilität: Der Neigezug ICN der Schweizer Bundesbahn, die Zürcher Straßenbahn Cobra sowie der italienische Hochgeschwindigkeitszug Frecciarossa (zu deutsch: Roter Pfeil) entstammen der Turiner Agentur. 2019 ging sie unter die Aussteller der Monaco Yacht Show und stellte dort die Segelyacht Wally 101 sowie die Motoryacht Princess Y95 vor. Auch Seilbahngondeln für den französischen Skiort Veyrins oder das Fahrrad SK Pininfarina für den italienischen Fahrradhersteller De Rosa runden das Portfolio ab.
Hin zur Architektur
In der 90-jährigen Geschichte von Pininfarina wurden über 1.200 Autos entworfen – sowie 600 weitere Projekte in den Bereichen Transport und Industriedesign. 2011 kam die Sparte Architektur hinzu. Den Auftakt gab der Umbau des Fußballstadions von Juventus Turin, gefolgt von der im Juni 2012 eröffneten Kapelle Madonna delle Stelle unweit von Neapel. Sowohl das Gebäude als auch die gesamte Möblierung einschließlich des Kreuzes und der Orgel wurden von den Asphaltfetischisten entworfen. „Wir hatten mit diesem Projekt das Ziel, unsere Marke noch weiter in das Feld der Architektur hineinzutragen“, erklärt Paolo Pininfarina. Seitdem tummelt sich das Unternehmen vor allem im Markt der Luxuswohnimmobilien. In São Paulo wird derzeit der 80 Meter hohe Apartmentturm Cyrela errichtet. Deutlich höher hinaus geht es im brasilianischen Badeort Balneário Camboriú mit dem 280 Meter hohen Doppelturm Pasqualotto Yachthouse, dessen Eröffnung für Ende 2020 anvisiert wird.
Die auf Geschwindigkeit getrimmte Formensprache kam auch bei einem anderen Bauprojekt zum Einsatz: dem Tower des neuen Istanbuler Flughafens. Die wie für den Windkanal optimierte Form findet ein Vorbild in der Historie der Agentur: Es ist die Fackel, die sie für die Olympischen Winterspiele 2006 in Turin gestaltet hat. Architektur wird zum Zeichen, zu einer auf Aerodynamik optimierten Skulptur. Das macht nicht immer Sinn. Und doch geht es um einen atmosphärischen Moment: Bewegung auch dann einzufangen, wenn gar keine Bewegung stattfindet. In diesem Sinne sind sich Architektur und Auto wiederum ganz nahe – und die Agentur Pininfarina ist ganz in ihrem Element.
Pininfarina
www.pininfarina.itMehr Stories
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