Den Dingen auf den Grund gehen
Interview mit Girsbergers Designchef Mathias Seiler
Partner: Girsberger
Mit einer neuen Kollektion fürs Homeoffice reagiert der Schweizer Möbelhersteller Girsberger auf eine veränderte Arbeitswelt. Im Interview erklärt Mathias Seiler, Head of Design and Marketing, den Entwurfsprozess und verrät, warum ihn sein Studium bei Dieter Rams nachhaltig geprägt hat.
Wie so viele Menschen arbeitet auch Mathias Seiler momentan tageweise im Homeoffice. Für ihn hat das viele Vorteile. Er spart 45 Minuten Arbeitsweg von seinem Wohnort Lörrach in Baden-Württemberg bis nach Bützberg in der Schweiz. Dort befindet sich das Headquarter von Girsberger. In diesem Familienunternehmen ist der gebürtige Münchner – nach Stationen bei Firmen wie Sedus und Umdasch – nun schon seit elf Jahren für das Design und Marketing zuständig.
Herr Seiler, mit dem Möbelprogramm La Punt haben Sie ein Produkt speziell fürs Homeoffice entworfen. Wie kam es dazu?
Mathias Seiler: Das Thema Homeoffice ist ja nicht neu. Es hat aber durch die Pandemie stark an Relevanz gewonnen. Bereits im April vergangenen Jahres haben wir uns die Frage gestellt, was wir in diesem Bereich unternehmen müssen. Mit den Bürodrehstühlen war Girsberger für das Homeoffice bereits sehr gut aufgestellt, bei den Tischen noch nicht. Arbeitswissenschaftler gehen davon aus, dass 30 bis 40 Prozent der Büroarbeit auch nach der Pandemie zu Hause verrichtet wird. Mit dem Laptop auf dem Sofa oder am Esstisch geht das nicht. Da braucht es einen vernünftigen Bildschirmarbeitsplatz. Das führt häufig zu einem Platzproblem. Wer kein eigenes Arbeitszimmer hat, muss seinen Schreibtisch ins Wohnzimmer, in die Küche oder in den Flur integrieren. Dafür gibt es bislang kaum Lösungen.
Wie lief der Entwurfsprozess ab?
Ich habe viel über Möglichkeiten des Klappens nachgedacht, um eine geringere Tischtiefe zu erreichen. Ein Bildschirmarbeitsplatz benötigt für einen richtigen Sichtabstand zum Monitor 70 bis 80 Zentimeter Tiefe und darüber hinaus eine gewisse Arbeits- und Ablagefläche. Daraus entstand die Idee einer Holzbrücke, aus der sich eine Arbeitsfläche ausklappen lässt. Somit sind die Schreibtische nicht tiefer als ein Sideboard. Die Lösung hat zudem den Vorteil, dass sich das Homeoffice verbergen lässt. Im zusammengeklappten Zustand verdeckt die Arbeitsplatte den Stauraum. Die Holzbrücke lässt sich durch Schubkästen und andere Module bis hin zu einer Regalwand ergänzen.
Wie fügt sich La Punt in die aktuelle Kollektion von Girsberger ein?
1889 als Drechslereibetrieb gegründet, stellt Girsberger einen Großteil seiner Möbel aus Massivholz her. Das gilt auch für La Punt, was dem Möbelstück eine hohe Wertigkeit gibt. In der Kollektion von Girsberger gibt es mehrere Bürodrehstühle, die dazu passen. Neu ist das Modell Marva. Dieser Stuhl enthält alle ergonomischen Funktionen, doch man sieht sie ihm nicht an. Möglich wurde diese neuartige Gestaltung aufgrund einer sehr flach gebauten Drehstuhlmechanik. Sie ist vollständig in den Sitz integriert und somit unsichtbar. Damit – und aufgrund einer weichen und runden Formensprache – unterscheidet sich Marva vom typischen Drehstuhldesign der vergangenen 25 Jahre, das sehr technisch und rational wirkte. Für Girsberger sind Möbel fürs Homeoffice ein neuer Geschäftszweig, den wir in Zukunft ausbauen möchten. Büroflächen werden tendenziell abnehmen und die Menschen werden mehr Arbeitsflächen zu Hause haben.
Wie läuft die Zusammenarbeit mit anderen Designern?
Mehr als die Hälfte unserer Produkte entwerfen externe Designer. Dieser Austausch ist sehr bereichernd und ihn zu gestalten, ist Teil meiner Arbeit. Die Designer müssen natürlich ein Stück weit zu Girsberger passen, aber das ergibt sich von selbst. Mit vielen unserer Designer arbeiten wir bereits lange zusammen, aber es kommen auch immer wieder neue hinzu. Zusammen mit dem Atelier I+N haben wir zum Beispiel vor kurzem unser derzeit erfolgreichstes Tischprogramm Barra entwickelt. In Zusammenarbeit mit atelier oï entstand die Business Lounge Velum und mit greutmann bolzern der dreidimensional bewegliche Drehstuhl Simplex 3D.
Welche Bedeutung hat Innovation in einem Traditionsunternehmen wie Girsberger?
Design hat meistens etwas mit Innovation zu tun. Das ist auch eine Frage der Markenidentität. Das Beispiel von La Punt zeigt es sehr gut: Da brauchten wir einfach eine Lösung für ein neues Problem. Neue Dinge entstehen oft dann, wenn sich etwas grundlegend verändert.
Auch das Thema Nachhaltigkeit im Design wird momentan viel diskutiert.
Ja, das ist gut so und dringend notwendig. Es gibt bei uns schon seit 15 Jahren den Geschäftsbereich Remanufacturing. Wir sanieren im Projektbereich zum Beispiel Möbel von Restaurants oder Konzerthäusern wie dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL). Es müssen nicht unsere Produkte sein, aber sie sollten eine gewisse Qualität haben. Bei all den Diskussionen um Nachhaltigkeit wird dieser Aspekt meiner Ansicht nach zu wenig beachtet: Dass es eigentlich am nachhaltigsten ist, Dinge zu erhalten. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, Möbel nicht nur zu gebrauchen, sondern zu verbrauchen. Wir kaufen sie selbst dann, wenn sie für uns nicht optimal sind. Die Frage nach einer nachhaltigen Herstellung und einer Rückführung in die Kreislaufwirtschaft ist zwar sehr berechtigt. Noch besser wäre es aber, die Dinge gar nicht wegzuschmeißen.
Sie haben bei Dieter Rams studiert. Inwiefern beeinflusst das Ihre Arbeitsweise und Ihren gestalterischen Ansatz?
In der Rückschau hat mich das schon sehr geprägt. Ich teile seine Ansicht, dass wir weniger Dinge brauchen, sie aber von besserer Qualität sein sollten. Es gibt noch einen anderen wichtigen Satz von ihm: Gutes Design ist möglichst wenig Design. Daran glaube ich ganz fest. Wenn man sich mit Möbeln auseinandersetzt, kommt man häufig zu dem Schluss, dass die einfachste Lösung meistens die beste und die schönste Lösung ist. Dorthin zu gelangen, ist allerdings nicht einfach. Man muss fortlaufend reduzieren und den Dingen auf den Grund gehen.
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