Menschen

Der Betonflüsterer

Omer Arbel im Gespräch

Das Multitalent Omer Arbel gestaltet mit Bocci nicht nur wunderbare Leuchten. Mit seinem Architekturbüro entwirft der Kanadier beeindruckende Gebäude und forscht an neuen Konstruktionsverfahren und Materialverbindungen. Was ihn antreibt? Die Geheimnisse zu entdecken, die Materialien in sich tragen, sodass sich daraus neue Räume formen lassen.

von Adeline Seidel, 26.08.2020

Omer Arbel kennen viele als Gründer und kreativen Kopf von Bocci, der kanadischen Leuchtenmanufaktur. Doch Omer Arbel, geboren 1976, ist nicht nur Designer und Künstler, sondern auch Architekt. Er begann mit 17 Jahren sein Architekturstudium im kanadischen Waterloo, um keine vier Jahre später mit dem Bachelor in der Tasche für Enric Miralles in Barcelona zu arbeiten. Nach dem Tod des spanischen Architekten zog es ihn zurück nach Kanada, wo er für verschiedene Architekturbüros tätig war. Im Jahre 2005 gründete Omer Arbel gemeinsam mit Randy Bishop das Unternehmen Bocci. Und mit dem Erfolg von Bocci blieb kaum noch Zeit für die Architektur.

„Im Grunde haben wir nach der Fertigstellung unseres ersten Gebäudes, dem Projekt Nr. 23.2, zehn Jahre lang nicht gebaut“, erklärt Omer Arbel. Doch auch wenn in dieser Zeit nicht gebaut wurde, wuchs eine große Ideenbibliothek durch das immerwährende Experimentieren mit Materialien  und Verfahren heran. Dieses Wissen fließt nun in verschiedene Entwürfe in Kanada ein, die zum Teil aktuell umgesetzt werden. Wir haben mit Omer Arbel über seine Suche gesprochen, die Geheimnisse eines Materials zu entdecken.

Was verbindet das Architekturbüro Omer Arbel und die Leuchtenmanufaktur Bocci, außer natürlich Dich als ihren kreativen Kopf? (lacht) Es gibt einen Aspekt, der unabhängig von Maßstab und Kontext all unseren Projekten zu eigen ist: Unser Interesse an den Formen, die jedem Material allein durch seine physikalischen, chemischen oder mechanischen Eigenschaften innewohnen. Wir zwingen einem Material also nicht eine von uns definierte Form auf; wir lassen uns vom Material lehren, welche Form es annehmen möchte. Das verändert unsere Rolle als Gestalter: Wir entwickeln Verfahren und Techniken, um die intrinsischen Eigenschaften eines Materials zu manipulieren. So entdecken wir Formen, die uns überraschen und mit denen wir arbeiten wollen. Ich liebe es, die Geheimnisse eines Materials zu entdecken.

Eure Projekte sind für Orte konzipiert, die landschaftlich besonders reizvoll sind. Inwiefern beeinflusst der Bauplatz die Wahl des Materials und der Methode? Natürlich beeinflusst der Ort den Entwurf. Architektur im Landschaftsraum, das ist etwas Fremdes, ja, fast Außerirdisches, manchmal auch etwas Unheimliches oder sogar Ungemütliches. Mit unseren Entwürfen versuchen wir, eine Spannung zwischen Landschaft und Material herzustellen. Das kann beängstigend sein, zugleich aber auch schön. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt kann es auch eine veränderbare Architektur ermöglichen.

Kannst Du ein Beispiel nennen? Nehmen wir das Projekt Nr. 91. Das Haus ist im Grunde eine Brücke, die sich über ein topographisches Becken legt – landschaftlich, mit der aktuellen Bepflanzung, ist das sehr reizvoll. Doch in den kommenden hundert Jahren wird Meerwasser das gesamte Becken fluten. Das Brückenhaus ist also eine Art Indikator für den Klimawandel: Je mehr Wasser sich im Becken befindet, desto weiter ist der Klimawandel fortgeschritten. Das hat etwas Erschreckendes, aber auch Poetisches...



Das Studio beschäftigt sich unter anderem auch mit neuen Möglichkeiten des Betongussverfahrens. Das erste Ergebnis ist im Projekt Nr. 62, einem Konzept für ein historisches Wohnhaus in Vancouver, zu sehen. Weitere Versionen der sogenannten Lily Pads werden aktuell in dem Projekt Nr. 75.9, einem Wohnhaus in British Columbia, realisiert. Wie funktioniert das Verfahren – und was ist das Ergebnis? Das Verfahren ist im Grunde eine Kritik an der aktuellen Betonverarbeitung. Daher noch einmal zurück zur Philosophie unseres Büros: Wir lassen uns vom Material lehren, welche Form es sein will. Aktuell wird Beton fast nur in rechteckige Schalungen gepresst. Das ist „unehrlich“ gegenüber seiner fließenden Natur, aber auch strukturell nicht effizient, da es aufwendig ist und eine hohe Anzahl an Arbeitskräften bedingt. Das macht Beton teuer. Mit den Lily Pads wollen wir die natürliche Plastizität des Materials nutzen und einen Weg finden, mit weniger Material, aber auch weniger Arbeitskräften, Raumstrukturen zu erzeugen, die uns von dem Diktat der Orthogonalität befreien. Wir verwenden ein Gewebe, in das der Beton gegossen wird. Das muss in einem Arbeitsgang passieren, sonst erreichen wir nicht die Stabilität, die wir benötigen. Deswegen haben wir einen Beton entwickelt, der im Vergleich zu anderen schnell trocknet. Und zwar noch während des Gießvorgangs. So kann die Struktur bereits während der Herstellung stabilisieren – und das spart wiederum Material. Wir sind keineswegs die Ersten, die auf diese Weise mit Beton experimentieren. Es gibt viele andere, beispielsweise Mark West, Gründer von C.A.S.T. Im Grunde lassen sich solche Fertigungsverfahren bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen.

Warum haben sich diese Verfahren, Beton in Gewebestrukturen zu gießen, bisher nicht durchgesetzt, wenn ihnen doch so viele ökonomische Vorteile innewohnen? Das ist eine gute Frage. Vielleicht, weil sich das Ergebnis zu Teilen der modernistischen Rationalisierung und dem modernen Raumverständnis verweigert: Die Herstellung erfolgt vor Ort, Präfabrikation ist nicht möglich. Die Geometrien sind nicht immer einfach in Raster und Achsen zu übersetzen, und der Zufall ist ein gewünschter Bestandteil der Konstruktion. Damit muss man erst einmal lernen umzugehen.

Begeistert Dich eigentlich die brutalistische Architektur der Sechziger- und Siebzigerjahre? Ja! Sehr! Der kanadische Architekt Arthur Erickson ist einer meiner Helden. Aber der Gestaltungskanon der brutalistischen Architektur, wie sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren gebaut wurde, ist sehr kontrolliert: Der Architekt hat die Form „unter Kontrolle“. Es fehlt der Moment des Loslassens. Und den Moment versuche ich in meinen Arbeiten zu finden und an einigen Punkten keinen Einfluss mehr auf die Form zu nehmen.

Ausstellung:
Omer Arbel – Architektonische Experimente in Material und Form
Vom 29. August bis zum 22. Oktober 2020
AEDES Architekturforum

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Omer Arbel

omerarbel.com

Mehr Menschen

„Ein Schalter ist wie ein Uhrwerk“

Ein Gespräch über die Gira-Produktneuheiten mit Jörg Müller

Ein Gespräch über die Gira-Produktneuheiten mit Jörg Müller

Zwischen Euphorie und Askese

Studiobesuch bei Karhard in Berlin

Studiobesuch bei Karhard in Berlin

Wirkungsvolles Licht

Sven Bär über neue Trends bei SG Leuchten

Sven Bär über neue Trends bei SG Leuchten

Formen aus dem Feuer

Simone Lüling über die Anfänge ihres Leuchten-Labels ELOA

Simone Lüling über die Anfänge ihres Leuchten-Labels ELOA

Experimentierfreudiges Duo

Im Designlabor von Niruk

Im Designlabor von Niruk

Maßgeschneidertes Spektrum

Sebastian Deutenberg über die Manufakturleuchten von TRILUX

Sebastian Deutenberg über die Manufakturleuchten von TRILUX

Material matters

Bodo Sperlein und seine Entwürfe für den gedeckten Tisch

Bodo Sperlein und seine Entwürfe für den gedeckten Tisch

„Ich liebe es, mit Licht zu arbeiten“

Designer Michael Anastassiades im Gespräch

Designer Michael Anastassiades im Gespräch

„Veränderung ist Teil unserer DNA”

Axel Schmid über den Neustart bei Ingo Maurer

Axel Schmid über den Neustart bei Ingo Maurer

„Es gab diesen großen Hunger“

Interview mit Dimitri Saddi, Gründer der Lichtmanufaktur PSLab Lighting Design

Interview mit Dimitri Saddi, Gründer der Lichtmanufaktur PSLab Lighting Design

Humorvolle Erinnerung

Ein Gespräch mit dem jungen Designer Josua Roters

Ein Gespräch mit dem jungen Designer Josua Roters

Langlebig, aber nicht langweilig

Das Designstudio Big-Game im Gespräch

Das Designstudio Big-Game im Gespräch

Ukrainische Perspektiven #1

Ein Interview mit Kateryna Vakhrameyeva von +kouple

Ein Interview mit Kateryna Vakhrameyeva von +kouple

Leuchtende Symbolik

Nanda Vigo-Retrospektive im madd-bordeaux

Nanda Vigo-Retrospektive im madd-bordeaux

Schattenmeister

Der spanische Innenarchitekt Francesc Rifé im Gespräch

Der spanische Innenarchitekt Francesc Rifé im Gespräch

Faszination für Glas

Unterwegs mit Simone Lüling in einer tschechischen Glashütte

Unterwegs mit Simone Lüling in einer tschechischen Glashütte

Die Solardemokratin

Interview mit der niederländischen Designerin Marjan van Aubel

Interview mit der niederländischen Designerin Marjan van Aubel

Gläserne Seifenblasen

Ein Gespräch mit der Leuchtendesignerin Simone Lüling

Ein Gespräch mit der Leuchtendesignerin Simone Lüling

Material als Leitfaden

Nachruf auf die Designerin Pauline Deltour (1983-2021)

Nachruf auf die Designerin Pauline Deltour (1983-2021)

Die junge Internationale

Kuratorin Anniina Koivu über die The Lost Graduation Show auf dem Supersalone

Kuratorin Anniina Koivu über die The Lost Graduation Show auf dem Supersalone

Florale Choreografie

Gartengestalter Piet Oudolf über tanzende Felder, wilde Gräser und erweiterte Wahrnehmung

Gartengestalter Piet Oudolf über tanzende Felder, wilde Gräser und erweiterte Wahrnehmung

Wir müssen innovativ sein

Jan Karcher von Karcher Design im Gespräch

Jan Karcher von Karcher Design im Gespräch

Die Material-Profis

Interview mit Anna Tscherch und Carsten Wiewiorra

Interview mit Anna Tscherch und Carsten Wiewiorra

20 Jahre Smart Home

Ein Rückblick mit Hans-Jörg Müller von Gira

Ein Rückblick mit Hans-Jörg Müller von Gira

Die Grenzgängerin

Ein Gespräch mit der 3D-Designerin Julia Koerner

Ein Gespräch mit der 3D-Designerin Julia Koerner

Hans-Jörg Müller

Der Innovationsmanager von Gira über moderate Updates und sanfte Integration

Der Innovationsmanager von Gira über moderate Updates und sanfte Integration

Komfort ist König

Der Spezialist für Schalter und Systeme über den perfekten Komfort in Hotels

Der Spezialist für Schalter und Systeme über den perfekten Komfort in Hotels

Jacques Herzog von Herzog & de Meuron

Ein Standpunkt zur Museumsarchitektur

Ein Standpunkt zur Museumsarchitektur

Holger Rullhusen

Ein Interview über die digitale Zukunf von Rutec

Ein Interview über die digitale Zukunf von Rutec

Titus Schade

Zuhause in der Kunst – ein Interview

Zuhause in der Kunst – ein Interview