Menschen

Ich arbeite komplett papierlos

Wäre Alvar Aalto auf die Orgatec gefahren? Ein Interview mit Artek-Chefin Marianne Goebl.

von Stephan Burkoff, 11.10.2016

Marianne Goebl ist so etwas wie eine kreative Erbschaftsverwalterin. Mit Artek führt sie die Geschichte fort, die mit einem Manifest zur Möbelkultur vor 80 Jahren ihren Anfang nahm – 2016 wird Artek erstmalig zu den Ausstellern der Orgatec gehören. Ein Gespräch über das perfekte Büro,  darüber, was jahrzehntealte Möbelentwürfe auf einer auf die Zukunft ausgerichteten Büromöbelmesse verloren haben und, was Vitra von Artek lernen kann.

Kann man durch die Möblierung eines Büros darauf Einfluss nehmen, wie die Menschen arbeiten?

Ich glaube prinzipiell, dass die Art, wie man seine Umgebung gestaltet, zum Wohlbefinden beiträgt – ob das zu Hause, im öffentlichen Bereich oder im Büro ist. Davon bin ich überzeugt. Deshalb arbeite ich im Designbereich. Das Man-Made-Environment ist das, was uns umgibt. Und je nachdem, mit wie viel Herz und auch Hirn das gestaltet wurde, geht’s einem besser oder schlechter. Jetzt hat natürlich nicht jeder dieselben Wünsche, aber ich denke, es gibt so ein paar grundlegende Bedürfnisse, die für einen sozial nicht auffälligen Menschen die gleichen sind: Das eine ist Austausch und das andere ist Rückzug. Rückzug, um in Ruhe arbeiten und denken zu können. Austausch, um seine Ideen und Ergebnisse zu überprüfen und weiter zu entwickeln. Wenn diese Bedürfnisse berücksichtigt werden, glaube ich schon, dass es möglich ist positiven Einfluss darauf zu nehmen, wie effektiv Menschen arbeiten.

Spricht man über die Zukunft des Büros, geht es in der Regel vordergründig um den technologischen Wandel und dessen Auswirkungen. Welche Aspekte spielen zusätzlich eine Rolle?
Aus meiner Sicht ist der menschliche Faktor eigentlich der zentrale. Ich glaube, dass Menschen ins Büro kommen, weil sie sich mit ihren Kollegen Face-to-Face austauschen wollen. Technologisch ist ja heute in der Kommunikation auch alles ohne physische Präsenz machbar. Aber ich denke, dass Ideen nicht auf Distanz entstehen. Es muss Momente geben, in denen man im selben Raum ist, damit eine gewisse Dynamik möglich wird.

Wenn sich die Mitarbeiter nur noch selten treffen, wie erreicht man, dass trotzdem einen Teamspirit entsteht und konstruktive Arbeit möglichst auf Anhieb klappt?
Das hängt natürlich mit der Unternehmenskultur zusammen. Das Team muss schon mal grundsätzlich gewillt sein, miteinander zu arbeiten. (lacht) Gerade wenn man nicht mehr immer zusammenhockt und man diese Momente schaffen muss, in denen man sich austauscht, ist es natürlich wichtig, dass man direkt andocken kann und nicht erst eine gemeinsame Raumtemperatur schaffen muss. Das ist eine Frage der Kultur, der Generation, hat aber ebenso viel mit Hierarchie zu tun. Vor 30 Jahren hat man in einem Büro sofort erkannt, wer der Chef ist. Das ist heute nicht mehr so. Es gibt keinen Thron mehr, der Chef sitzt mittendrin. Insofern verändert sich einfach die Art der Zusammenarbeit. Eigenverantwortung ist da ein wichtiger Punkt sowie ein gemeinsames Ziel, das auch als solches empfunden wird.


Für Alvar Aalto haben Wohnen und Arbeiten immer zusammengehört, zumindest bis er sein Studio in Helsinki gebaut hat. Ist das vielleicht die Erklärung dafür, dass seine Entwürfe auch in beiden Welten funktionieren?
Das ist ein interessanter Gedanke. Dass diese zwei Sphären für ihn untrennbar waren, zählt sicher dazu. Ich glaube aber, dass es vor allem damit zusammenhängt, welchen Charakter er seinen Produkten geben wollte. Sie haben etwas Undefiniertes, aber trotzdem einen eigenen Charakter. Sie wissen, wer sie sind, können aber alles mögliche sein. Sie sind sozial nicht konnotiert. Man kann sie sich ebenso in einem bourgeoisen Umfeld vorstellen wie in weniger privilegierten Haushalten. Sie sind formal so unaufdringlich, dass sie sich in ganz unterschiedlichen Situationen einfinden können. Der Tisch ist ein Tisch. Ganz egal, was der Einzelne mit ihm tut.

... ihn beispielweise als Ess- oder Arbeitstisch zu benutzen. Wie schafft ein Möbel dieses Wechselspiel?

Die formale Kraft, die gestalterische Kraft: Das ist die Magie des Klassikers. Was sicher auch noch dazukommt, ist die Materialwahl. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum Artek jetzt im Büro wieder mehr zu sagen hat als vielleicht noch in den Neunzigerjahren: Weil die Büros wieder wohnlicher werden. Also wohnlich nicht im Sinne des eigentlichen Wohnens, sondern im Sinne der Schaffung informeller Situationen. Das hat natürlich zur Folge, dass sich Büromöbel, die klar konnotiert und als solche erkennbar sind und sich manchmal anfühlen wie eine Maschine, weniger eignen als Produkte, die sich zwischen diesen Welten bewegen.

Wie arbeitest du selbst gerne?
(lacht) Die Leute machen sich über mich lustig. Man sagt, ich könne auch unter dem Tisch arbeiten. Eigentlich brauche ich nur eine gerade Fläche und einen Stuhl. Zudem bin ich inzwischen komplett papierlos. Ich bin also ein schlechtes Testimonial für die Büromöbelindustrie.

Für welche Art von Büro eignen sich die Produkte von Artek?
Artek ist kein Gesamteinrichter, und wir haben auch nicht diesen Anspruch. Aber ich glaube, dass Artek Elemente beisteuern kann, um eine gewisse Atmosphäre zu schaffen. Das eignet sich vor allem für Kunden, die weniger Wert auf Repräsentation als aufs Sein legen. Denen es mehr um eine Entspanntheit, eine informelle Stimmung geht. Ich glaube, es ist etwas für selbstbewusste Unternehmen, die weniger auf einer Machtstruktur aufbauen als auf einer Art von Teamspirit, der ein Miteinander fördern soll. Vor allem aber auch für Kunden, die daran interessiert sind, Zufälle zuzulassen. Man möchte ja, dass Mitarbeiter eigenständig denken und dass sich Dinge entwickeln, die nicht planbar sind. Für diese Zufälle, Begegnungen, Inspirationen und Ideen braucht es Raum und ein informelleres Umfeld. Informell im Sinne von nicht definiert, aber auch informell im Sinne von flexibel.
Freiheit bedeutet auch immer die Freiheit des anderen. Braucht das moderne Büro neue Benimmregeln?
Ja: Gerade, wenn neue Bereiche eingeführt werden, müssen dazu auch Regeln erstellt werden. Ich würde es nicht Benimmregeln nennen, sondern „Leitlinien für das Zusammenleben im Büro“. Das hängt aber sicher auch von der Unternehmensgröße ab.

Wie wird Artek sich auf der Orgatec präsentieren?
Für unseren eigenen Bereich haben wir uns gedacht, wir fokussieren uns auf ein Thema: nämlich die sogenannte L-Leg-Kollektion von Alvar Aalto. Also die Möbel, die auf dem L-förmig gebogenen Bein aufbauen. Und warum? Weil wir glauben, dass das eigentlich das flexibelste Produkt ist, das wir haben, um Lösungen für den öffentlichen Bereich oder das Büro anzubieten. Dazu haben wir mit den Architekten Kuehn Malvezzi ein Standkonzept entwickelt, das sich wie eine Raumordnung von einem städtebaulichen Ansatz ableitet und auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Wir haben uns vier Anwendungsbereiche herausgepickt: ein kleines Gruppenbüro mit vier Tischen, ein Café, einen Open-Space-Bereich und einen Workshop/Meeting-Bereich. Wir wenden uns mit dieser Präsentation gezielt an Architekten, denen wir zeigen möchten, dass Artek-Möbel sich an jedes Konzept anpassen lassen. Denn: Artek ist Birke, klar. Aber wir können im Customizing dafür sorgen, dass die Produkte sich überall nahtlos einpassen, Im Sinne von Farben, Materialien und Oberflächenbeschaffenheit. Zu unserer Freude wird Artek zudem mit einigen Produkten auch im Vitra-Collage-Office vertreten sein. Dass die planenden Architekten dies für sinnvoll erachtet haben, haben wir nicht forciert. Umso mehr freuen wir uns darüber.

Was kann Artek im Bürokontext von Vitra lernen?

Wie bereits erwähnt: Artek ist kein Büro-Gesamt-Einrichter. Das können wir nicht, dafür sind wir auch zu klein. Aber unsere große Schwester kann das. Wir werden keine eigene Office-Philosophie für Artek entwickeln – wenngleich Artek in seinen Anfängen niemals eine reine Home-Marke war, sondern vielmehr und insbesondere in öffentlichen Bereichen angesiedelt, was allerdings in den vergangenen Jahrzehnten etwas in Vergessenheit geraten ist. Wir lernen von Vitra also den heutigen Blick aufs Büro, ohne dabei unsere eigene Position aus dem Auge zu verlieren.

Was kann Vitra von Artek lernen?
Flexibilität, sowohl im Bezug auf die Produkte als auch in der Art, an die Dinge heranzugehen. Um ein Beispiel zu nennen: Unsere Tische sind nicht elektrifiziert. Und da stellt sich die Frage, wie arbeitet man an einem Tisch, der über keine Steckdosen und Anschlüsse verfügt? Für uns ist der Tisch ein Tisch. Wir wollen also nicht in der Mitte eine Steckdose versenken, denn dann wird der Tisch zum Meetingtisch, ebenso wenig an der Stirnseite, denn dann wird der Tisch zu einem Bürotisch. Wir möchten aber, dass unser Kunde den Tisch vielleicht in zehn Jahren in ein Café stellen kann. Wir beschäftigen uns also damit, wie man die Dinge retrofitten kann. Warum kann man nicht die Steckdose unten an die Tischplatte schrauben, und dann schraubt man sie wieder ab? Wie kann man Personal-Storage integrieren? Zu diesen Fragen betreiben wir gerade ein kleines Aalto-Hacking-Projekt, dessen Ergebnisse wir auch auf der Orgatec in Köln zeigen werden: Kleinteilige, individuelle Konzepte, die es zum Teil schon mal gab, die aber simple Lösungen für scheinbar komplizierte Probleme bieten.


Vom 25. bis 29. Oktober 2016 präsentiert Vitra mit Work die Zukunft der Arbeit in Halle 5.2 der Büromesse Orgatec in Köln. Work geht der Frage nach, wie dynamische Räume aussehen, die dem heutigen Verständnis von Arbeit und ihrer Bedeutung in unserem Leben und unserer Kultur gerecht werden. Besuchen Sie Work by Vitra auf der Orgatec, um mehr zu erfahren.

www.baunetz.de/work in progress



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