Menschen

Marianne Goebl

Die Artek-Chefin im Gespräch.

von Jeanette Kunsmann & Stephan Burkoff, 28.09.2015

Design für eine Nation. Angeblich stehen in jedem finnischen Haushalt Möbel von Artek. Ein Gespräch mit der Artek-Geschäfstführerin Marianne Goebl im Restaurant Savoy in Helsinki, dem Ort, für den Aino und Alvar Aalto unter anderem ihre berühmte Glasvase entworfen haben.

Du warst früher bei Vitra, dann für die Messe Design Miami tätig und bist jetzt bei Artek Geschäftsführerin. Wie kam es dazu?
Marianne Goebl: 2013 hat Vitra Artek übernommen. Die frühere Leiterin Mirkku Kullberg sollte zu Vitra wechseln, um dort das Home-Segment neu aufzubauen. Sie wollte das aber nur machen, wenn sie sich sicher sein konnte, dass jemand bei Artek einsteigt, der das kann. Und man meinte, das könnte ich sein – so hat sich das ergeben. Bevor ich Gespräche mit Artek begann, war ich noch nie in Finnland gewesen. Aber ich wollte hier immer hin. Es war eine diffuse Sehnsucht.

Gibt es einen guten Austausch zwischen Weil am Rhein und Helsinki?
Das war auch ein wichtiger Punkt von Mirkku. Sie glaubte, sie könne mehr für Artek tun, wenn sie eine Brücke von der anderen Seite baut. Für mich ist das ebenfalls gut, dass jemand bei Vitra ist, der genau weiß, was Artek für ein Unternehmen ist und braucht. Solche Dinge kann man aber nicht planen.

Was verbindet die Marken Vitra und Artek, was unterscheidet sie?
Sie sind beide sehr tief in den Ideen der Moderne verwurzelt. Im Fall von Vitra ist es die Moderne des American Mid-Century – es baut ja auf den Werten der Eames auf. Im Fall von Artek ist es die Idee einer nordischen Moderne. Beide sind kommerziell-kulturelle Projekte: an der Schnittstelle Design und Architektur bei Vitra, und bei Artek ist es die Schnittstelle zwischen Design, Architektur und Kunst. Die Unternehmen unterscheiden sich aber in vielen anderen Aspekten wie Materialität und Technologien. Vitra ist ein Gesamteinrichter, Artek ist, abgesehen von Finnland, eher ein Katalog, eine Kollektion, aber keine Einrichtungsidee. Muss es auch nicht. Die Liste der Unterschiede ist lang, aber es gibt ein Fundament von vergleichbaren Werten, die sich dann aber jeweils anders manifestieren.

Sie sind wie Geschwister, die aus einer Familie kommen...
Es ist eher wie eine moderne Ehe: Wir haben uns jetzt gefunden, aber wir leben in unseren eigenen Häusern. Wir haben uns gern und treffen uns, wenn wir das wollen. Gegenseitiger Respekt und Sympathien waren schon immer von beiden Seiten vorhanden. Aber wir verschmelzen nicht, es soll nicht symbiotisch werden.

Zwischen der Messe Design Miami und Artek nimmt man eine gewisse Nähe wahr, insbesondere wegen der Sammlerstücke.
Auch die Nähe zur Kunst. Was mich an Artek auch fasziniert, dass die Firma als eine Art Programm gegründet wurde: Art und Tech, also um künstlerischen Anspruch und technischen Fortschritt zusammenzubringen. Anfänglich ging es den Gründern darum, eine Plattform für „Moderne Kunst, Einrichtung und industrielle Kunst sowie Propaganda“ zu schaffen, so haben sie es in ihrem Manifest genannt – das Wort Design kommt darin gar nicht vor. Es ist faszinierend, dass ein kommerzielles Unternehmen in seinem Gründungsmanifest diese anderen Ebenen explizit aufgreift. 80 Jahre später haben wir als Unternehmen einen anderen Auftrag als in Finnland 1935. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, was Artek heute bedeuten kann.

Du hast im Juli 2014, also ziemlich genau vor einem Jahr, die Leitung übernommen. Was hat sich denn seitdem verändert? Was hast Du verändert?
Was sich für mich verändert hat: Ich glaube langsam zu verstehen, was dieses Unternehmen überhaupt ist – so etwas braucht Zeit. Nach ein paar Monaten versteht man die Strukturen, aber sich richtig einzufühlen dauert länger. Für mich ist es wichtig, zu verstehen, was Artek war, das macht die Überlegungen einfacher, was es werden könnte. Was möchten wir sagen, was möchten wir sein. Das betrifft einmal das Portfolio, aber auch andere Dinge. Artek hatte ja auch eine Galerie. Die Frage der künstlerischen Dimension stellt sich auch.

Liegt es nicht nahe, die Kunst wieder mehr in das Programm von Artek aufzunehmen?
Ja, aber man muss es heute anders machen als vor 60 oder 70 Jahren. Damals ging es darum, moderne Kunst zu vermitteln und dafür eine Plattform zu schaffen – diese Kunst wurde in Helsinki in den dreißiger Jahren noch nicht gezeigt. Heute gibt es einen internationalen Kunstmarkt. Es gibt aber Bereiche der Überschneidungen, die spannend werden können.

80 Jahre Artek, basierend auf wunderbaren historischen Entwürfen. Aber sind diese eigentlich für die Zukunft erfunden?
Eingerahmt natürlich nicht – aber ich glaube, sie sind ein sehr guter Ausgangspunkt.

Welche Rolle spielt denn für Artek zeitgenössisches Design? Die Bouroullec-Kollektion hatte schon vor deiner Zeit begonnen, oder?
Ja, vor meiner Zeit. Aber ich hätte sie auch keinesfalls stoppen wollen. Die Kollektion wirkt so, als wäre sie schon immer dagewesen. Ich denke, das ist es auch, was manche der Aalto-Klassiker ausmacht: Man spürt, sie waren schon da, sind aber auch kein Alien aus einer anderen Zeit. So sind auch die Bouroullec-Möbel.

Gibt es denn den Ansatz, diese Idee mit weiteren jungen Designern fortzuführen?
Auf jeden Fall. Die Idee ist, das zeitgenössische Programm auszubauen – aber in unserem eigenen Tempo. Artek ist eine kleine Firma, den Katalog gibt es seit 80 Jahren, und er wird behutsam wachsen. Wir werden vielleicht in einem Jahr ein neues Projekt haben – sehr gerne mit zeitgenössischen Designern, sehr gerne auch mit Designern, die nicht mit Vitra arbeiten. Die Bouroullecs waren nicht die ersten, weil sie bei Vitra waren, sondern obwohl sie bei Vitra waren.

Was ist denn Dein Lieblingsstück aus Eurer Kollektion?
Das wechselt immer. Wenn man sich mit diesen Dingen intensiv beschäftigt, sieht man zum Beispiel Orte wie das Savoy bei jedem Besuch wieder anders. Ich mag auch Nischen-Dinge – zum Beispiel diese Wirkkala-Pendelleuchte mit dem diamantförmigen LED-Leuchtmittel. Ich mag aber auch Aalto-Produkte, die nicht so klar definiert sind – wie der Hocker oder die Bank. Das sind Produkte, die wissen, wer sie sind, sich aber bewegen und anpassen können. Und ich mag auch Tapiovaara, der war für mich die große Entdeckung, seine Entwürfe kannte ich gar nicht, bevor ich zu Artek gekommen bin.

Wie stehst Du zu Reeditionen?
Dahinter steht für mich die Frage des Neuen. Auch ein neuer Entwurf baut auf einem Kanon auf. Ein guter Designer weiß, was vorher war und in welchem Kontext es sich bewegt. Wenn aus diesem Nährboden etwas Neues entsteht, ist das natürlich spannend. Es ist aber auch durchaus berechtigt, wenn man Dinge, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, und die aus irgendeinem Grund heute nicht mehr verfügbar sind, neu produziert. Man muss sich dann fragen, warum es diese Produkte nicht mehr gibt. Waren sie ihrer Zeit voraus? Waren sie zu teuer, und man kann sie jetzt anders produzieren? Oder waren sie einer Modetrend-Schwankung unterworfen, und jetzt mag man sie wieder? Nicht alles, was einmal produziert wurde, ist automatisch ein Klassiker. Eine Reedition ist nicht mit einem Klassiker gleichzusetzen.

Und die marktgerechte Veränderung von Klassikern?
Prinzipiell glaube ich, dass ein Designprozess nie abgeschlossen ist, man muss einem historischen Entwurf aber mit Respekt für den Designer begegnen. Wenn man sich mit ihm nicht mehr abstimmen kann, weil er schon verstorben ist, muss man sich mit denjenigen abstimmen, die sein Erbe und seine Interessen vertreten. Neben dieser Abstimmung braucht man ein möglichst großes Verständnis für die Intentionen des Designers. Manche Veränderung ist auch durchaus berechtigt: Die Menschen sind heute zum Beispiel größer als vor 80 Jahren. Dieser Stuhl ist zwar wunderbar, aber er ist uns heute zwei Zentimeter zu niedrig.

Gut. Worauf die Frage aber eher abzielte, sind Reeditionen, bei denen alte Entwürfe gefällig gemacht werden. Also in Bezug auf Farben und Materialien.
Das bleibt natürlich immer auch leicht spekulativ: Was hätte der Designer entschieden, was hätte er gemacht? Prinzipiell sind Designprodukte gedacht, um in Serie hergestellt zu werden und sich an ihre Zeit anzupassen. Farben und Oberflächen sind immer das Element, das am schnellsten einem Geschmackswechsel zum Opfer fällt. Natürlich gibt es Designer, die ein Produkt nur genau in einer bestimmten Farbe wollten. Es gibt aber auch Produkte, die wurden farblich vom Designer für jeden Kunden angepasst. Also, wenn das früher schon flexibel war, warum darf man das heute nicht auch anpassen? Das sind Fragen, die man sorgfältig bearbeiten muss. Aber: Man muss aufpassen, dass ein Produkt nicht zu einem neutralen Träger für eine Modefarbe wird.

Letzte Frage: Gibt es ein formuliertes Ziel für Artek?
Wir haben ziemlich klare Vorstellungen, worauf wir uns konzentrieren wollen. Aber wir haben nicht diesen einen Leitsatz, wo wir in fünf Jahren stehen möchten. Artek ist eine Marke mit Substanz. Die leitet sich nicht nur von Gründervätern und Anekdoten her, sondern es gibt einen Umgang mit Alltagsgegenständen, der auch für unsere Zeit gut und relevant ist. Es sind Dinge aus guten Materialien, die ihren Platz finden und Veränderungen mitmachen. Das sind alles Werte, die ich richtig finde. Heute geben die Leute nicht weniger Geld aus, sie geben es anders aus. Wir wollen wissen, woher die Dinge kommen, wo und wie sie gemacht werden. Das sind alles Themen, zu denen Artek viel zu bieten hat – ich glaube nur, dass das außerhalb von Finnland kaum jemand weiß. Auf diese Werte aufzubauen, ist unser Auftrag in den nächsten zehn Jahren.

Mehr über Artek und Alvar Aalto erfahren Sie in der BauNetzWOCHE #424: 80 Jahre Artek – Alvar Aalto und der Tango zum Wohnen.

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