Menschen

Mia Hägg: Optimierung des Wesentlichen

Die Schwedin über den Entschluss, sich von Herzog & de Meuron zu trennen

von Jana Herrmann, 17.10.2017

Strohblonde Haare, große braune Augen und ein herzerwärmendes Lächeln sind definitiv die drei auffälligsten Attribute, die bei der 1970 geborenen Schwedin ins Auge fallen. Das typische Klischee erfüllt Mia Hägg jedoch nicht. Die Architektin hat bei Herzog & de Meuron und Jean Nouvel einige der innovativsten Gebäude des 21. Jahrhunderts mitgestaltet und Projekte in Europa, Asien, Russland und Amerika betreut, bevor sie sich 2007 mit ihrem eigenen Architekturbüro selbstständig machte. Seitdem entwickelt sie Konzepte für den Bau von Wohnhäusern, Bürogebäuden und Stadien, die über herkömmliche Standardlösungen hinausgehen. Doch fangen wir besser von vorn an:

Aufgewachsen sind Sie in der Universitätsstadt Umeå nicht weit vom Polarkreis: Was hat Sie dazu bewegt, Architektin zu werden? Dafür gab es keinen konkreten Grund und ich hatte auch keine genauen Vorstellungen von diesem Beruf. Fasziniert hat mich aber von Anfang an, dass er so viele unterschiedliche Aspekte umfasst und sich mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft beschäftigt. Und ich wollte unbedingt nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit meinen Händen arbeiten.

Ihr Weg führte von der Technischen Hochschule in Göteborg an die renommierte École Nationale Superieure d’Architecture de Paris-Belleville. Warum haben Sie sich gerade diese Schule ausgesucht? Aus keinerlei beruflichen Ambitionen, sondern vielmehr aus der Faszination für die Stadt Paris und ihr unglaublich großes Kulturangebot, das ich auch intensiv ausgekostet und genossen habe. Der Rest war allerdings eine Katastrophe.

Wieso das? Ich sprach nur wenig französisch und konnte mich kaum verständigen. Das war belastend für mich, weil ich in Schweden eher auf einer intellektuellen Schiene unterwegs war und immer alles ausdiskutieren wollte. Nun ging das auf einmal nur noch mit Händen und Füßen – manchmal auch gar nicht. Und der Umgangston an der Universität war viel rauer, als ich es gewohnt war. Dort wurde mir das erste Mal in meinem Leben gesagt, dass ich versagt habe. Ich werde die Worte von meinem damaligen Professor nie vergessen: „Mademoiselle, Ihr Entwurf zeigt, dass Sie wirklich gar nichts verstanden haben.“. Diese Unverfrorenheit hat mich zutiefst verletzt und ich war kurz davor, alles hinzuwerfen – in Schweden wäre das nie so passiert. Dort wird immer etwas erfunden, das auch dem objektiv größten Mist einen Sinn oder eine interessante Note verleiht. Aber diese niederschmetternde Erfahrung hat auch etwas Positives in mir ausgelöst: Ich habe eingesehen, dass ich die Aufgabenstellung tatsächlich falsch interpretiert hatte, und wollte es meinem Professor nun erst recht zeigen. Vor allem habe ich verstanden, dass die Heile-Welt-Attitüde die Realität verzerren kann und einen im Leben nicht unbedingt weiterbringt.

Für Sie ging es sehr erfreulich weiter. Sie wurden 1998 in den Ateliers Jean Nouvel angestellt und arbeiteten drei Jahre lang an großen Projekten wie beispielsweise dem Dentsu Tower in Tokio mit. Inwieweit hat Jean Nouvel Ihre Architektur geprägt? Sehr stark. Ich hatte wirklich großes Glück und bin froh, dass ich bei Nouvel lernen durfte. Er ist wahnsinnig schnell in der Konzeption und agiert erst, wenn er zu Ende gedacht hat. Es gibt ja auch andere Architekten, die 15 Entwürfe entwickeln, um dann erst festzustellen, dass kein einziger funktioniert. So etwas passiert Jean Nouvel nicht. Mich hat auch von Anfang an beeindruckt, dass er für jedes Bauprojekt zunächst dessen Umfeld analysiert und dadurch beispielsweise tolle Stimmungen erzeugen kann. Darüber hinaus hat er eine außergewöhnliche Persönlichkeit: Ich bewundere seinen Mut, dass er sich nie verstellt, auch wenn er weiß, dass seine Ideen oder Aussagen nicht gut ankommen oder er provoziert. Außerdem hat er mir auch auf andere Weise viel Selbstvertrauen gegeben. Als ich bei ihm anfing, fiel mir sofort auf, dass die Projektleiter-Positionen oft von Frauen besetzt waren. Dabei dachte ich bis dahin, dass weibliche Architekten hauptsächlich nur für die netten Gebiete zuständig seien, die verantwortungsvollen Positionen aber den Männern vorbehalten blieben. So wurde uns das im angeblich so gleichberechtigten Schweden vermittelt. Zum Glück habe ich so auch diesen Irrglauben über Bord werfen können.

2002 wechselten Sie dann zu Herzog & de Meuron in Basel und wurden als Projektleiterin für den Bau des Nationalstadiums der Olympischen Spiele 2008 in Peking ernannt. Was haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen? Herzog & de Meuron ist für mich in jeder Hinsicht ein außergewöhnliches Architektenbüro. Jeder Etappenprozess eines Projektes zeugt von höchster Qualität, angefangen vom ersten Entwurf bis zum letzten Detail. Sie sind stets extrem innovativ, ohne ihrer Philosophie untreu zu werden. Ich habe dort definitiv gelernt, nach diesem Prinzip Projekte in Teamarbeit zu entwickeln. Besonders lehrreich war natürlich die Zeit in China. Ich wusste zwar schon aus Japan, dass die starren Hierarchien in den asiatischen Ländern vieles erschweren können, aber die Arbeitsbedingungen in China waren wirklich tough. Besonders beeindruckt hat mich die enorme Diskrepanz zwischen den Vorstellungen des Staates und den jungen, vom Kapitalismus getriebenen Unternehmen. Und es gab natürlich oft ein Sprachproblem – Gott sei Dank hatte ich ja bereits in Frankreich gelernt, wie man sich in Zeichensprache verständigt. (lacht) Generell finde ich die Arbeit an internationalen Projekten immer hochinteressant. Ich mag es, fremde Kulturkreise oder gegensätzliche Vorstellungen zu analysieren, mich dann anzupassen oder zumindest einen Kompromiss vorzuschlagen. Und als Ausländerin hat man es meines Erachtens sowieso einfacher, kulturelle Konflikte zu schlichten. Insofern ist es wunderbar, dass ich selbst in meinem Heimatland Schweden, das ich mit 20 Jahren verlassen habe, mittlerweile ein bisschen Ausländerin bin. (lacht)

Bei Herzog & de Meuron wurden Sie nach dem Peking-Projekt zum Associate befördert, verließen aber keine zwei Jahre später das Büro, um sich selbstständig zu machen – warum? Es war definitiv kein leichter Schritt und eine Entscheidung, die ich mir lange überlegt habe. Bei Herzog & de Meuron habe ich viel gelernt, durfte an interessanten Projekten arbeiten und auch das Arbeitsklima war sehr angenehm. Wahrscheinlich hat mir dieses Gesamtpaket so viel Vertrauen und Inspiration gegeben, dass ich Lust bekam, mein eigenes Ding zu machen, und mich bereit fühlte, Projekte von A bis Z zu begleiten.

Haben Sie diese Entscheidung denn nie bereut? Wenn man mit seinen eigenen Flügeln fliegen möchte, muss man eben irgendwann den Absprung wagen. Und ich bin mit meinem derzeitigen Leben wirklich sehr zufrieden. Außerdem stehen wir weiterhin in gutem Kontakt: Herzog & de Meuron haben mich zuletzt nach Hamburg eingeladen, um an der Generalprobe des Eröffnungskonzerts teilzunehmen. Die Elbphilharmonie ist wirklich ein sagenhafter, imposanter Bau mit einer einzigartigen Akustik, die ich als Liebhaberin klassischer Musik sehr genossen habe.

Statt glamouröser Landmarken realisieren Sie mit Ihrem eigenen Büro dagegen viele Projekte im sozialen Wohnungsbau. Was reizt Sie an diesem Sektor? Die immer wiederkehrende Herausforderung. Die Planung von Sozialbauten ist ein extrem komplexes und schwieriges Terrain. Mir persönlich geht es generell darum, die herkömmlichen Standards des Wohnungsbaus zu überdenken und neue, andere Lösungen zu finden. Grenzen werden natürlich durch die immer sehr knapp bemessenen Budgets gesetzt – oft ist schon im Vorfeld jeder Quadratzentimeter durch Regelungen oder gesetzliche Zwänge verplant. Das wiederum führt dann zu teilweise abstrusen Fehlkonstruktionen, und die Arbeit des zuständigen Architekten beschränkt sich im Prinzip nur noch auf den Entwurf der Fassade. Ich möchte durch alternative Vorschläge mehr Wohnqualität schaffen, indem ich mich nicht an den vorgegebenen Standards, sondern der vorhandenen Typologie des Gebäudes orientiere und danach die Ausrichtung, die Materialien und den idealen Lichteinfall der jeweiligen Wohnungen bestimme.

Dann ist der Name Ihres Büros Habiter Autrement also Programm … Genau, „Habiter Autrement“ bedeutet „Anders wohnen“. Ich wollte dem Büro zudem auf keinen Fall meinen Namen geben, weil Architektur für mich immer ein Gemeinschaftsprojekt ist. Mich allein gibt es sozusagen nicht, sondern für jedes Projekt stelle ich ein individuelles Team mit Menschen aus den unterschiedlichsten Disziplinen zusammen.

Woran arbeiten Sie gerade? An verschiedenen Projekten ganz unterschiedlicher Natur. Ich unterrichte derzeit Studenten einer belgischen Universität in Louvain und arbeite an einem Projekt in Stockholm, das 2018 fertiggestellt werden soll. Dort ersetzen wir den Teil einer ehemaligen Architektenschule, der bei einem Brand zerstört worden ist, durch einen multifunktionalen Raum. Er wird ein wichtiger Ort des Coworkings werden. Vor allem ergänzen wir bei diesem Projekt die erhalten gebliebenen, vom brutalistischen Baustil geprägten mit zeitgenössischen Elementen, die in keiner Weise den ursprünglichen Stil des denkmalgeschützten Gebäudes nachahmen, aber dennoch mit ihm harmonisieren. Ich finde es wichtig, einen optischen Unterschied zwischen Alt und Neu aufzuzeigen bzw. Existierendes durch Innovatives zu ergänzen – anstatt alles völlig neu zu gestalten. Auch auf das Kriterium der Typologie lege ich extrem viel Wert. Diesbezüglich arbeiten wir an dem Modul Atelier Haus, das sich damit beschäftigt, wie der gleiche Raum zum Wohnen und zum Arbeiten genutzt und mit nachhaltigen Materialien konstruiert werden kann: Atelier Haus wird aus 100 Prozent Holz bestehen. Und ich möchte unbedingt einen weiteren Objektgegenstand entwerfen, wie den Fahrradständer aus Marmor, den wir vergangenes Jahr entwickelt haben. Das war ein megatolles Gefühl, mit dem Entwurf in eine Fabrik zu gehen und nur kurze Zeit später das fertige Produkt in den Händen zu halten. Normalerweise muss ich immer eine gefühlte Ewigkeit auf das Endergebnis warten.

Vielen Dank für das Gespräch!

2007 verließ Mia Hägg nach fünf Jahren und zweijähriger Partnerschaft das Büro Herzog & de Meuron, um ihr eigenes Studio Habiter Autrement zu gründen. Dort sind in den letzten zehn Jahren zahlreiche soziale Wohnungsbauten entstanden, u.a. für das Entrepôt Macdonald in Paris.

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