Der Bulle von Venedig
Mit dem „Palazzina Grassi“ ist ein neues Hotel am Canal Grande in Venedig eröffnet worden. Entworfen wurde das Interieur des 22 Zimmer kleinen Hauses von Philippe Starck, der damit zugleich das erste Designhotel der Stadt bezog. Auch wenn er seinem eklektischen Stil weiterhin treu geblieben ist, traf er in der Lagunenstadt durchaus den richtigen Ton.
Italienreisende kennen das Problem. Während hierzulande die Restaurants meist durchgehend geöffnet haben, werden die Essenzeiten südlich der Alpen so präzise eingehalten wie in deutschen Amtsstuben der Feierabend. Was zunächst nicht besonders gravierend klingt, führt zu einem konkreten Problem: Nach halb drei Uhr nachmittags findet man nirgends mehr etwas zu essen, und auch am Abend empfiehlt es sich, den Appetit genau auf die Stunden zwischen halb acht und kurz nach zehn zu timen, um nicht hungrig ins Bett gehen zu müssen.
Kulinarische Selbstbestimmung
Zwar mag es gute Gründe für dieses Prinzip geben. Denn dafür, dass die Essenszeiten in ein derart enges Korsett gezwängt wurden, ist die Qualität des Essens spürbar besser als im kühlen Norden. Doch ehrlich: Was im Alltag durchaus zu handhaben ist, führt auf Reisen unweigerlich zu Stress. Erst recht, wenn aufgrund der Ankunftszeiten von Bahn oder Flugzeug die Reisenden zwangsläufig zum Hungern verordnet werden oder den Gang in einen alles andere als empfehlenswerten Stehimbiss anzutreten haben.
Dass die kulinarische Selbstbestimmung durchaus Teil einer zeitgemäßen Reisekultur ist, hat ein neues Hotel in Venedig nun zum Prinzip erklärt. Im „Palazzina Grassi“, das sich in direkter Nachbarschaft des Palazzo Grassi am Canal Grande befindet, wird gekocht, wenn es die Gäste der nur 16 Zimmer und sechs Suiten wünschen – und zwar 24 Stunden am Tag, egal ob Frühstück, Mittag oder Abendessen. Ein Service, der selbst in Grand Hotels mit mehreren hundert Zimmern nur mit Einschränkungen möglich ist.
Venezianische Küche
Gekocht wird derweil unter den Augen der Gäste. Das hoteleigene Restaurant „PG“ verfügt über die erste offene Showküche Venedigs, an der die Gäste das Geschehen mit verfolgen können. Unkonventionelle Wege werden auch bei den Speisen selbst begangen. Nicht nur, dass die Gäste neben venezianischen Spezialitäten jedes Gericht ordern können, das sie sich wünschen – vorausgesetzt der Koch ist auch imstande, es umzusetzen. Auf den Tisch kommen zudem nur Speisen, die ausschließlich im eigenen Haus hergestellt wurden. Selbst die Kekse zum Tee sowie sämtliche Kuchen, Croissants oder Brote werden selbst gebacken und nicht von außen angeliefert.
Privater Check-in
Die Essenszeiten frei zu bestimmen, ist jedoch nicht der einzige Luxus, der den Gästen des Fünf-Sterne-Hauses geboten wird. Es ist vielmehr ein Hotel, das den Eindruck eines privaten Wohnhauses vermittelt. Auf eine Lobby wurde hierbei bewusst verzichtet und die Organisation der erforderlichen Dienste auf weitaus diskretere Weise umgesetzt. Empfangen wird der Gast im hoteleigenen Boot – einem stilechten „Celli“ aus dem Jahr 1960 mit Mahagoni verkleidetem Interieur – und damit vom Flughafen, Bahnhof oder dem eigenen Boot abgeholt. Während der Fahrt zum Hotel, das über einen direkten Anlegesteg am Canal Grande verfügt, werden die lästigen Formalitäten erledigt.
Historisches Gebäude
Für Inhaber Emanuele Garosci lag in der persönlichen Nähe zu den Gästen die Herausforderung. Der Hotelier, der auch das Now-Hotel in der Via Tortona in Mailand betreibt, wollte sich mit dem ersten Designhotel Venedigs bewusst von den traditionellen Häusern der Stadt absetzen. Die Immobilie, die er dafür direkt neben dem Palazzo Grassi erwarb, ist nicht ein beliebiger Stadtpalast aus dem 16. Jahrhundert. Es ist der frühere Stammsitz der Familie Grassi, bevor diese den ungleich größeren Bau errichten konnte, der heute die Kunstsammlung von François Pinault beherbergt.
Dass Garosci für die Gestaltung des Interieurs auf Philippe Strack gesetzt hat, mag einerseits vorhersehbar sein. Schließlich gilt der Pariser Designer als Garant für einen erfolgreichen Hotelbetrieb. Und doch zeigt sich hierbei zugleich auch ein lokaler Bezug. Starck, der seit knapp 30 Jahren eine Wohnung auf der Insel Burano im Norden Venedigs besitzt, kennt sich in der Lagunenstadt bestens aus. Und auch sein opulenter, kulissenhafter Stil scheint in Venedig durchaus den richtigen Ton zu treffen, wo eine gewisse Spur Kitsch einfach dazugehört.
Eklektisches Interieur
Vor allem im Restaurant- und Barbereich ist Starck seiner Sprache treu geblieben und kombinierte Sitzmöbel, die bereits im Sanderson Hotel in London sowie dem Royalton in New York zum Einsatz kamen, mit opulenten Leuchtern und Vasen aus Muranoglas. Gehören Spiegel seit jeher zu Starcks Repertoire, sind sie hier allgegenwärtig. Insgesamt 286 großformatige Spiegel wurden in dem kleinen Hotel verbaut, die vor allem die Zimmern und Suiten betont hell und weitläufig erscheinen lassen. Zusammen mit der Technischen Universität von Turin wurde ein Beleuchtungssystem entwickelt, das in die ebenfalls verspiegelten Rahmen integriert wurde und ein weiches, indirektes Licht erzeugt.
Auf zwei Gebäudeteile verteilen sich die insgesamt 16 Zimmer und sechs Suiten, von denen fünf direkt am Canal Grande liegen. Im hinteren Gebäudeteil, der auch das Restaurant beherbergt, sind die übrigen Zimmer sowie im Dachgeschoss eine weitere Suite untergebracht. Eine großzügige Dachterrasse, die von vier Zimmern gleichzeitig erschlossen wird, bietet einen Ausblick über die Dächer der Stadt und wird im Sommer mit den starck-typischen, übergroßen Pflanzkübeln begrünt. Die höher gelegene Suite verfügt zudem über zwei Balkone mit einem noch weiter reichenden Blick über Venedig.
Leuchtender Bulle
Sowohl an der Kanalseite, wo den Gästen ein privater Clubraum zur Verfügung steht, als auch an der Rückseite, die von einer kleinen Gasse entlang des Palazzo Grassi erschlossen wird, erwartet die Gäste ein markantes Erkennungszeichen: ein aus buntem Muranoglas geformter Bulle, der als Logo des Hotels fungiert und ebenfalls von Starck entworfen wurde.
Auch wenn sich der Altmeister im Vergleich zu seinen bisherigen Hotels nicht wirklich neu erfunden hat, zeigt seine Vorliebe für Spiegel und Lüster, die er in den vergangenen 25 Jahren zu seinem Markenzeichen entwickelt hat, hier lokalen Bezug. Und auch die kulissenhafte Atmosphäre, die seine Räume verbindet, scheint durchaus passend für diese Stadt, die nicht selten selbst den Anschein erweckt, als wäre sie eigens für einen Film erbaut.
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