Die Lust auf Fleisch
Vegetarier müssen an diesem Ort tapfer sein. Denn nur selten werden fleischliche Versuchungen so eindringlich zur Schau gestellt wie in der Fleischerei Victor Churchill in Sydney. Anstatt ihr Sujet auf sterile Weise zu verstecken, werden Schinken, Rinderhälften und Koteletts inszeniert wie Accessoires in einer exklusiven Boutique. Ein sinnlich-brutales Shoppingvergnügen – und das bei weitem nicht nur für kochende Männer.
Von weitem erinnert das Geschäft beinahe an einen altehrwürdigen, englischen Barbershop. Dunkelgrüne Vertäfelungen aus Holz und darüber, in großen, goldenen Lettern, der Name des vermeintlichen Besitzers. Doch so gediegen der erste Eindruck zunächst scheint, spricht das Innere eine gänzlich andere Sprache. Was sich dort befindet, ist nicht nur eine kulinarische Rarität, die an der australischen Ostküste längst Kultstatus erworben hat. Auch die Kultur des Essens wird in der Fleischerei Victor Churchill auf authentische Weise neuerfunden.
Preziosen aus Fleisch
Bereits die Auslage im Schaufenster beginnt mit einem leichten Schock. Auf drei hölzernen Ablagen, die an Fleischerhaken von einem Stahlrohr herabhängen, werden saftig-dunkelrote Fleischstücke mitsamt der Knochen wie Preziosen zur Schau gestellt. Dazwischen – als wäre das nicht schon genug – steht ein beiges Paar Gummistiefel, das trotz seiner sauberen Gestalt unweigerlich Assoziationen von Schlachthöfen und Lachen von Blut in die Vorstellung der Betrachter projiziert. Selbst hartgesottenen Fleisch-Fans dürfte dies eher einen Schauer über den Rücken jagen als spontan den Appetit anregen.
Und dennoch: In der Direktheit, mit der um Knochen, Blut und all die Messer, Beile und anderen Gerätschaften, die zum Fleischerhandwerk stets dazugehören, bewusst kein Bogen gemacht wird, liegt eine faszinierend-archaische Wirkung. Denn sind wir nicht längst zu sehr verweichlicht in unserer Wahrnehmung von Essen, das einerseits schmecken, aber andererseits niemandem wehtun darf? Der Tod gehört in der Fleischerei Victor Churchill dazu – ohne dabei in eine geschmacklose Splatter-Version oder einen voyeuristischen Akt zu verfallen. Fleisch wird hier auf entwaffnend ehrliche Weise zubereitet, bei der Blut durchaus fließen darf.
Historischer Ort
Bereits seit 1876 befindet sich an dieser Stelle eine Fleischerei unter dem Namen Churchill‘s Butchery, die 2009 zu neuem Leben geweckt wurde. Initiiert wurde das Projekt von Vic und Anthony Puharich, die mit ihrer Firma Vic's Meat Australia als Marktführer im Handel mit hochwertigen Fleischsorten im Pazifikraum gelten und einige der renommiertesten Restaurants in Australien, China und Singapur beliefern. Nachdem das Vater- und Sohn-Gespann die Traditionsfleischerei in der Queen Street im Stadtteil Woollahra übernommen hatte, verordneten sie ihm nicht nur eine Namensänderung – Victor Churchill leitet sich aus dem Ursprungsnamen der Fleischerei Churchill und dem Vornahmen ihres Großvaters Victor Puharic ab – sondern ebenso einen grundlegenden Umbau. Dessen Planung wurde vom Sydneyer Designbüro Dream Time Australia übernommen, das sich vor allem mit der Gestaltung von Hotels und Restaurants in Down Under einen Namen gemacht hat. Anstatt eine sterile Welt aus Kacheln zu inszenieren, haben sie sämtliche kühlen Materialien aus dem Raum verbannt.
Blutsichere Räume
Betritt der Kunde das Geschäft, erwartet ihn zu seiner Linken zunächst eine hölzerne Wand, an der zahlreiche Kameras positioniert sind. Auch sie sind mit hölzernem Furnier überzogen und auf einen Sockel mitsamt einer gläsernen Glocke ausgerichtet, während in die Wand eingelassene Bildschirme die Aufnahmen der Kameras in Echtzeit übertragen. Was sich unter der Glocke befindet, ist jedoch kein kostbarer Schmuck, sondern die Spezialität des jeweiligen Tages. Stand für diese Inszenierung eine Schaufensterinstallation von Louis Vuitton Pate, geht es im Anschluss auf kaum weniger theatralische Weise weiter.
Hinter einer raumhohen Glasscheibe befindet sich das Herzstück der Geschäfts, wo das Zerteilen des Fleisches wie auf einer Bühne inszeniert wird. Als Requisiten dienen drei große Hackklötze, die dicht an der Glasscheibe positioniert sind. Die Kunden können auf diese Weise den Hackprozess verfolgen, ohne befürchten zu müssen, dass vielleicht doch der eine oder andere Blutspritzer auf ihrer Kleidung landet. Ist die Materialität des Holzes als Schneideunterlage bereits gegeben, setzen Dream Time Australia auch im übrigen Interieur auf die Wirkung warmer Materialien.
Wohnliche Atmosphäre
Sowohl die Decke des langgezogenen Raumes als auch dessen rechte Wand sind vollständig mit Paneelen aus Holz vertäfelt, in die großformatige, verglaste Kühlschränke eingelassen wurden. Ganz anders dagegen die linke Seite des Raumes. Kommen an jener Stelle, wo das Fleisch geschnitten wird, grob behauene Felsblöcke zum Einsatz, ändert sich die Materialtät im angeschlossenen Kühlraum vollständig. Auch dieser ist durch eine transparente Glasscheibe vollständig für die Kunden einsehbar, während ganze Rinder- und Schweinehälften pittoresk von einer metallenen Schiene herabhängen. Dominiert wird der Raum jedoch von einer durchleuchteten Rückwand aus himalaysischen Saltstein, die mit ihrer warmen, goldgelben Färbung einen raffinierten Kontrast zur tatsächlichen Raumtemperatur und der Rohheit der Exponate bildet. Ähnlich edel zeigt sich auch der Fußboden der Fleischerei, für den Dream Time Australia hellbeigen, italienischen Calacatta-Marmor verwendet haben, der über eine markante grau-schwarze Maserung verfügt.
Anatomie des Geschmacks
In der Öffnung der Kühl- und Arbeitsräume, die in gewöhnlichen Fleischereien für die Kunden stets verschlossen bleiben, liegt weit mehr als eine ungewöhnliche Inszenierung. Indem Fleisch nicht nur in Form von Filets präsentiert wird – und in dieser Abstraktion die Verbindung zur Natur vollständig verliert – bleibt über die sichtbare Verarbeitung ganzer Tierhälften die Herkunft der einzelnen Fleischsorten nachvollziehbar. Indem der brutale Aspekt der Metzger-Arbeit auf diese Weise akzeptiert wird, wächst zugleich das Bewusstsein gegenüber fleischlichem Genuss: in punkto Frische, Herkunft und nicht zuletzt auch der Frage, wie viel Fleisch tatsächlich jeden Tag auf den Tisch gehört. Dass es sich schlussendlich immer um Tiere handelt und keine abstrakte Masse, lautet die erste Lektion, die die Kunden der Fleischerei Victor Churchill mit auf den Weg nehmen.
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