Dinner bei Mies
Es geht rasant nach oben. Im 54. Stock kommt der Fahrstuhl zum Halten. Wir sind auf der Wellington Street, mitten in Toronto. Hier oben liegt nicht nur eines der besten Restaurants Kanadas, auch der Ort könnte spektakulärer nicht sein: ein 222 Meter hoher Wolkenkratzer von Mies van der Rohe aus den späten sechziger Jahren.
Der unvermeidliche Barcelona Chair darf auch hier nicht fehlen, zumindest im Eingangsbereich des Gebäudes. Das Toronto Dominion Centre, bei seiner Errichtung das höchste Gebäude der Stadt, ist eine Architekturikone der kanadischen Metropole. Einen ganzen Block umfasst das Grundstück mitten im Financial District. Allen Lambert, in den sechziger Jahren CEO der Toronto Dominion Bank, gab die Gebäude in Auftrag – damals ein großes finanzielles Wagnis, waren doch nur die ersten sieben Stockwerke für die Nutzung der Bank vorgesehen, alle anderen mussten fremdvermietet werden. Einen veritablen Coup landete der Auftraggeber mit dem Engagement Mies van der Rohes als Berater des regional ansässigen Architekturbüros Bregman + Hamann. Und es ist eindeutig seine Handschrift, die das Gebäude atmet.
Hochhaus und Pavillon
In dem inzwischen auf sechs Hochhäuser angewachsenen Komplex arbeiten heute 21.000 Menschen, während der ursprüngliche Entwurf nur den Toronto Dominion Bank Tower – in dem sich das Restaurant Canoe befindet – den Royal Trust Tower und einen eingeschossigen Pavillon vorsah. Streng muten die schwarzen Gebäude an, die auf einem Raster von 1,5 Meter basieren und deren gläserne Lobbies das Innen mit dem Außen kongenial verbinden. Manch einer mag sich bei dieser düsteren Stahlträger-Curtainwall-Konstruktion erinnert fühlen an Mies‘ legendäres New Yorker Seagram Building oder seine Chicagoer Lake Shore Drive Apartments.
Ein unbezahlbarer Blick
Hat der Besucher die elegante und großzügig dimensionierte Eingangshalle durchschritten – in der Wände und Boden aus edlem Travertin dominieren – gelangt er zu den Fahrstühlen. Nach einer schnellen Fahrt hinauf gelangt er durch einen schmalen Gang in das großzügig bemessene Restaurant Canoe. Der grandiose Ausblick auf die Stadt und den Ontario-See wird durch die räumliche Übereck-Situation inszeniert. Hier verliert sich der Blick auf die abendlichen, funkelnden Lichter der Stadt, so dass das Essen geradezu zur Nebensache wird. Es ist hier wie fast überall in Nordamerika und zuweilen etwas gewöhnungsbedürftig für das europäische Wesen: Selbst in teuren Restaurants – ein Probiermenü mit Wein kostet im Canoe immerhin 150 Kanadische Dollar pro Person – herrscht eine lockere Atmosphäre: Kinder schreien, in legere Sportkleidung gekleidete Menschen unterhalten sich laut und auch der Service lässt zuweilen zu wünschen übrig. Nun gut, zumindest der Ausblick macht alles wieder wett. Besonders von der Bar kann man ihn genießen, am besten allein und ohne störendes Geplauder. Frontal den Fenstern zugewandt sitzt man hier an einem schmalen, transparent-orangenen Hochtisch – ähnlich wie im Großstadtcafé um die Ecke. Ungleich eleganter ist das Interieur des Restaurants gehalten.
Alles neu
Sechzehn Jahre nach Eröffnung des Restaurants, das zur Oliver and Bonancini Group mit diversen Restaurants in Kanada gehört, wagten die Besitzer eine Millionen Dollar kostspielige Umgestaltung. War die erste Version von Designer Yabu Pushelberg noch minimalistisch-clean ausgefallen, so kommt die neue Variante von Anacleto Design viel wärmer daher. Dies ist vor allen der Farbwahl und den taktil ansprechenden Oberflächen geschuldet. Tastsinn ist gefragt – egal, ob es sich um die Eingangswand aus handgehämmerten Kupferplatten handelt oder um den samtigen Bezug der Stühle, die entfernt an Entwürfe von Eliel Saarinen erinnern. Die Farbpalette changiert sanft in Braun- und Taupetönen – die sechziger Jahre lassen grüßen.
Zusätzlich zum großen Bar- und Restaurantraum, der mit drei sonderangefertigten Geweih-Leuchten von Brothers Dressler versehen ist, stehen zwei Private-Dining-Bereiche für Gruppen bis zu 40 Personen zur Verfügung. Besonders gefällig an der Neukonzeption des großen Gastraums ist die offene Küche. Nur durch eine Theke aus Edelstahl getrennt, kann man hier auch gut allein essen und den weiß behaubten Köchen beim Werkeln und Zubereiten der edlen Speisen zusehen. Überhaupt ist die Betonung des Offenen augenfällig. Anacleto Design hat den Raum von den alten Trennwänden befreit, arbeitet mit Höhenunterschieden und nutzt die Sitzbänke als niedrige Raumtrenner.
Kanadische Köstlichkeiten
Die Küche des Canoe – die unter dem Chef de cuisine John Horne und dem Sommelier William Predhomme Lunch und Dinner auf weißem, undekoriertem Fine-Bone China-Porzellan von Fortena offeriert – konzentriert sich auf eine regionale Produktpalette. Dazu gehören in Kanada vor allem Fisch und Fleisch, aber auch Büffel-Mozzarella und Weine aus Ontario. Manch einem mag es da vielleicht allzu oft nach Ahornsirup schmecken, was jedoch kein Wunder ist bei einem Menu, das sich „Taste Maple“ nennt.
Tief unten gibt es übrigens auch noch etwas zu sehen von Mies: eine Shopping Mall ganz nach den Vorstellungen des deutschen Architekten. Dass für den Bau des TD Centre seinerzeit einige historische Gebäude wie das Rossin House Hotel oder die Carrère and Hastings Bank weichen mussten, spielt heute keine Rolle mehr. Entstanden ist stattdessen, frei nach Philip Johnson: „The largest Mies in the world.“
FOTOGRAFIE Kristina Doyle/ Alison Woo
Kristina Doyle/ Alison Woo
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Toronto Dominion Centre
www.tdcentre.comWie hätte Mies es gemacht?
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