Im Kreis des Seins
Anfang Mai wurde die neue Spielzeit im Theater von Syrakus eröffnet. Die temporäre Bühne, auf der bis Ende Juni Der gefesselte Prometheus von Aischylos, Die Bakchen von Euripides sowie Die Vögel von Aristophanes zu sehen sind, wurde in diesem Jahr von Rem Koolhaas und seinem Büro AMO gestaltet. Anstatt in illusionistische Kulissen zu entführen, schälte der Niederländer die räumlichen Qualitäten der antiken Spielstätte wirkungsvoll heraus. Das Halbrund der Zuschauer vervollständigte er kurzerhand zu einem Kreis, dem sich selbst die Götter zu fügen haben.
Wenn der Konflikt auf der Bühne keinen Ausweg mehr zuließ, kannte die griechische Tragödie ein einfaches wie wirkungsvolles Mittel: Auch ohne einen logischen Bezug zur bisherigen Handlung herzustellen, ließen die Dramatiker eine Gottheit in das verfahrene Geschehen eingreifen und gaben ihm so eine unverhoffte Wendung. Mehr als die Hälfte der Tragödien von Euripides fand mithilfe jener Deus ex machina ihre Auflösung, die in Gestalt einer hölzernen Figur auftrat und mithilfe von Kränen oder durch den Einsatz von Falltüren erschien. Die Blüte der griechischen Tragödie in fünften Jahrhundert vor Christus markiert auf diese Weise zugleich den Beginn der modernen Bühnentechnik, die mit immer ausgefeilteren Konstruktionen verfeinert wurde.
In authentischem Rund
Als eine der größten Bühnen der Antike galt das griechische Theater von Syrakus, dem heutigen Siracusa im Südosten von Sizilien. Mit einem Durchmesser von 138 Metern und mehr als 60 Sitzreihen bot das halbkreisförmige Theater bis zu 15.000 Sitzplätze, von denen heute noch rund 5000 erhalten sind. Seit 1913 findet dort im Sommer ein sechswöchiges Festival statt, das unter der Leitung des Instituto Nazionale del Dramma Antico (INDA) die Stücke von Aischylos, Euripides und anderen Zeitgenossen zur Aufführung bringt. Dass auch an dieser Stelle ein Hauch von Bilbao nicht fehlen darf, machte Festival-Chef Federico Balestra deutlich, als er 2009 die Gestaltung der Bühne an Massimiliano und Doriana Fuksas übertrug. Vermochte das römische Architektenpaar, die Auslastung mithilfe eines verspiegelten Kegels deutlich zu steigern, konnte Balestra in diesem Jahr einen weiteren prominenten Architekten gewinnen.
Bühnenerfahrungen hatte Rem Koolhaas bereits 1987 mit mehreren Inszenierungen im Netherlands Dance Theater in Den Haag sowie 2009 im Wyly Theatre in Dallas gesammelt. Darüber hinaus ist sein ausführendes Büro AMO, das im Gegensatz zum Office for Metropolitan Architecture (OMA) nicht-architektonischen Projekten gewidmet ist, durch die räumliche Inszenierung der Prada-Modenschauen auch im Schaffen medialer Ereignisse versiert. In Syrakus hat AMO keineswegs losgelöst vom Raum agiert, sondern vielmehr eine räumliche Klammer um den historischen Bau gelegt.
Spiegelung des Raums
Bereits in der Antike gab es einen deutlichen Bruch zwischen den halbkreisförmigen Zuschauerrängen und dem rechtwinkligen Bühnenhaus (griech. Skene), das die kreisförmige Mittelbühne (griech. Orchestra) rückseitig umschloss. Rem Koolhaas umging diese Trennung, indem er das Halbrund des Zuschauerraums auf Höhe des zweiten Ranges mithilfe einer Gerüststruktur weiterführte. Hinter der Bühne, wo von den höheren Sitzreihen aus das Meer zu sehen ist, schließt sich nun der Kreis, der die Zuschauer wie Darsteller zusammenfasst.
An dessen Scheitelpunkt grenzt eine sieben Meter hohe, kreisförmige Bühne an, die mit ihren hölzernen Stufen den Zuschauerraum spiegelt. Ihre Größe entspricht exakt der Mittelbühne, und sie vermag auf Rollen um die eigene Achse zu rotieren. Auch diese Konstruktion, die von den Schauspielern direkt über die ringförmige Rampe betreten werden kann, verfügt über ein Stahlgerüst als tragenden Unterbau. Wenn es die Handlung erfordert, kann die Bühne in der Mitte geteilt werden und den Schauspielern den Zugang oder Abgang zur Bühne ermöglichen. In einer Szene aus dem Gefesseltem Prometheus von Aischylos (Regie Claudio Longhi) wird der Titan durch ein Erdbeben in die Unterwelt gesandt und verschwindet zwischen den auseinander driftenden Stufen.
Ankunft der Götter
Die dritte Intervention liegt in der Umgestaltung der Orchestra zu Füßen der Zuschauerränge. In deren Mitte ragte in der Antike eine viereckige, stufenförmige Erhöhung empor, die so genannte Thymele. Rem Koolhaas erweiterte diesen Altar, der verschiedenen dionysischen Riten vorbehalten war, zu einer runden, hölzernen Plattform. Das „Floß“, wie es die Architekten bezeichnen, dient nicht nur als Hauptbühne für die Schauspieler sowie den Chor, sondern wirkt als ein Zentrum, das die antike Spielstätte auch räumlich zusammenhält. Das Motiv des Kreises wird von einer weiteren, jedoch deutlich kleineren Plattform am rechten Bühnenrand aufgegriffen, auf der verschiedene Instrumente zum Einsatz kommen.
In den ursprünglichen Planungen war vorgesehen, dass auch das Publikum das Theater über den Ring betritt, der die Bühne rückseitig umschließt. Auch wenn diese Idee aus Sicherheitsgründen aufgegeben werden musste, bleibt die Rampe keineswegs ungenutzt. Ihre erhöhte Position erlaubt den Göttern ein Eingreifen „von oben“ – auch ohne die Hebel und Kräne, mit denen die Deus ex machina in der Antike auf die Bühne gewuchtet wurde. Vielleicht liegt genau darin der eigentliche Charme dieser Bühne: Sie verleiht selbst den Göttern eine weltliche Erdung, indem sie das Rund der Zuschauer mit der Ebene der Götter verschmilzt und die antike Effekthascherei beruhigt.
FOTOGRAFIE Alberto Moncada
Alberto Moncada