Le Corbusier trifft Maya-Pyramide
Einfamilienhaus von Ludwig Godefroy im mexikanischen Mérida
Auf den Spuren der Moderne wandelt der Architekt Ludwig Godefroy mit einem Einfamilienhaus im mexikanischen Mérida. Rauer Sichtbeton trifft auf organische Wanddurchbrüche und skulpturale Regenkollektoren. Selbst eine Maya-Pyramide findet den Weg in dieses Wohnensemble, in dem Innen- und Außenraum nahtlos ineinander übergehen.
In Mérida treffen Welten aufeinander. Im Zentrum von Yucatáns Hauptstadt liegen die herrschaftlichen Bauten aus der Kolonialzeit. Im Umland erheben sich die Ruinen der bedeutenden Maya-Stätten Uxmal, Izamal und Chichén Itzá. Wie beide Epochen mit der Gegenwart zusammentreffen, zeigt ein Wohnhaus für eine dreiköpfige Familie, das nur wenige Meter von der Plaza Grande, dem zentralen Platz der 800.000-Einwohner-Stadt, errichtet wurde. Für den Architekten Ludwig Godefroy ging es darum, keinen austauschbaren Kasten zu errichten. „Wie kann man die Identität von Yucatán reflektieren und dieses Haus zu einem Teil seiner Umgebung machen? Oder in anderen Worten: Wie nah an die Maya-Kultur kann dieser Bau heranrücken?“, fragte sich der Architekt aus Mexiko-Stadt.
Auf den Spuren der Maya
Für die Lösung dieser Aufgabe kam ihm die Topografie zu Hilfe. Achtzig Meter in der Länge, doch nur acht Meter in der Breite misst das Grundstück. Godefroy wollte die lange, durchgehende Perspektive erhalten, die sich von der Eingangstür bis ins hintere Ende des Baugrunds eröffnet. Er platzierte einen schmalen Gang an die nördliche Grundstücksmauer, der durch die gesamte Länge des Grundstücks führt. Damit hat er ein entscheidendes Narrativ gefunden, das sich doppelt begründen lässt. Die erste zeitliche Rückkoppelung reicht in die Hochphase der Maya-Kultur zurück. Sacbé heißen die weißen, steinernen Wege, mit denen die Tempel, Pyramiden, Plätze und andere Zeremonienstätten verbunden wurden. Sie waren mit Kalk bedeckt und maßen mitunter mehrere hundert Kilometer in der Ausdehnung.
Klimatische Erdung
Als zweite Referenz dienten die Residenzen der spanischen Kolonialherren. Zur Straße schirmen sie sich durch hohe Mauern ab, die lediglich von einem Tor durchbrochen werden. Dahinter reihen sich mehrere Innenhöfe aneinander, zu denen sich die Wohnräume öffnen. Zwischen den Patios weht stets ein frischer Wind, der für eine natürliche Abkühlung sorgt. In Yucatán, wo ein durchgehend tropisches Klima herrscht und die Temperaturen im Mai auf über 40 Grad Celsius klettern, ein entscheidender Pluspunkt. „Viele Jahrhunderte lang wurde so gebaut. Es hat das Bild von Mérida geformt, bis die Klimaanlagen Einzug hielten und andere Arten von Architektur ermöglichten“, sagt Ludwig Godefroy.
In vielen Teilen der Stadt laufen die Klimageräte heute rund um die Uhr, was dazu führt, dass sich sowohl die Gebäude als auch die Menschen von der Natur entgrenzen. „Wie können wir von dieser übermäßigen Nutzung einen Schritt zurückgehen?“, fragt der gebürtige Franzose, der im Büro von OMA in Rotterdam gearbeitet hat, bevor er sich dauerhaft in Mexiko niederließ. Der aus Beton gegossene Gang, der durch die gesamte Länge des Grundstücks führt, dient nicht nur zur Erschließung der Wohnräume und dem Schaffen von Sichtverbindungen. Er bewirkt eine kühlende Querlüftung, die beständig brummende Klimaanlagen überflüssig macht.
Positiv und negativ
Direkt nach dem Betreten des Tores folgt ein Innenhof, der eine Art Pufferzone zur Stadt definiert. Die Wohnräume sind in drei getrennten, ein- bis zweigeschossigen Baukörpern untergebracht, die von weiteren Höfen durchbrochen werden. „Der Grundriss folgt dem Rhythmus aus positiv und negativ, aus bebauten und unbebauten Flächen, die sich gegenseitig abwechseln“, bringt Ludwig Godefroy das Konzept auf den Punkt. „Das Gebäude schließt die Menschen nicht ein, bleibt offen, atmet unentwegt, während es für das notwendige Gefühl von Schutz und Privatsphäre sorgt“, erklärt der Architekt. Die Freiräume schaffen die Distanz, um die Skulpturalität der einzelnen Baukörper in ihrer gesamten Komplexität zu erfahren.
Modernistische Referenzen
Hier wandelt Godefroy ganz unverhohlen auf den Spuren modernistischer Schwergewichte: Nicht nur die Wind- und Sonnenfänger sowie die runden Wandöffnungen – deren Form keinem präzisen Kreis, sondern der Silhouette eines Kieselsteins folgt – lassen an Le Corbusier und Louis Kahn denken. Es ist die omnipräsente Materialität von Sichtbeton, die lediglich von hölzernen Schattenlamellen und Möbeln kontrastiert wird. Auch die Kücheninsel im hintersten Baukörper ist aus Beton gefertigt. Daneben wurde eine kreisrunde Sitzecke mit türkisfarbenen Polstern in den Boden eingelassen. Im davor gelagerten Gebäudeteil führt eine Betontreppe zu einer Sonnenterrasse hinauf und lässt mit ihren breiten Stufen an eine domestizierte Variation einer Maya-Pyramide denken.
Ganz am Ende des Grundstücks wird der Pool von aufragenden Wänden eingefasst. Die Szenerie erinnert an den Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe, wenngleich auch hier mit Sichtbeton eine deutlich rauere Materialität gewählt wurde als bei dem mit Naturstein verkleideten Originalentwurf. Der Zugang erfolgt über ein L-förmiges Betonelement, das sich weit über das türkisfarbene Becken schiebt. Anstelle einer Georg-Kolbe-Skulptur ragt ein leerer Sockel aus dem Wasser hervor: zum Sitzen, Festhalten, Pause machen und als Podest, um vor dort in eine Hängematte zu klettern, die über der Wasseroberfläche schwebt.
Kreislauf des Wassers
Das kühlende Nass wird übrigens direkt vor Ort gewonnen. „Yucatán ist eine Region, die sehr reich an Grundwasser ist. Ein Loch in den Boden zu bohren und klares Wasser aus der Tiefe zu gewinnen, war die naheliegende Lösung. Um den Kreislauf der Wasserregeneration zu schließen, muss das Regenwasser jedoch in den Boden abfließen können“, sagt Ludwig Godefroy. Auf den Dächern sammeln Kollektoren aus Sichtbeton die Wassermassen, die in der von Juni bis September anhaltenden Regensaison hinabfallen. Durch breite Kanäle, die an Rutschen erinnern, werden sie in die mit Kieselsteinen bedeckten Höfe geleitet und versickern so im Boden. Die Architektur begleitet diesen Prozess nicht nur: Sie verwandelt ihn in ein Schauspiel für die Sinne – an dem die alten Mayas ebenso wie Le Corbusier sicher ihre Freude gehabt hätten.
FOTOGRAFIE Rory Gardiner
Rory Gardiner