Projekte

Le Corbusier trifft Maya-Pyramide

Einfamilienhaus von Ludwig Godefroy im mexikanischen Mérida

Auf den Spuren der Moderne wandelt der Architekt Ludwig Godefroy mit einem Einfamilienhaus im mexikanischen Mérida. Rauer Sichtbeton trifft auf organische Wanddurchbrüche und skulpturale Regenkollektoren. Selbst eine Maya-Pyramide findet den Weg in dieses Wohnensemble, in dem Innen- und Außenraum nahtlos ineinander übergehen.

von Norman Kietzmann, 10.06.2020

In Mérida treffen Welten aufeinander. Im Zentrum von Yucatáns Hauptstadt liegen die herrschaftlichen Bauten aus der Kolonialzeit. Im Umland erheben sich die Ruinen der bedeutenden Maya-Stätten Uxmal, Izamal und Chichén Itzá. Wie beide Epochen mit der Gegenwart zusammentreffen, zeigt ein Wohnhaus für eine dreiköpfige Familie, das nur wenige Meter von der Plaza Grande, dem zentralen Platz der 800.000-Einwohner-Stadt, errichtet wurde. Für den Architekten Ludwig Godefroy ging es darum, keinen austauschbaren Kasten zu errichten. „Wie kann man die Identität von Yucatán reflektieren und dieses Haus zu einem Teil seiner Umgebung machen? Oder in anderen Worten: Wie nah an die Maya-Kultur kann dieser Bau heranrücken?“, fragte sich der Architekt aus Mexiko-Stadt.

Auf den Spuren der Maya
Für die Lösung dieser Aufgabe kam ihm die Topografie zu Hilfe. Achtzig Meter in der Länge, doch nur acht Meter in der Breite misst das Grundstück. Godefroy wollte die lange, durchgehende Perspektive erhalten, die sich von der Eingangstür bis ins hintere Ende des Baugrunds eröffnet. Er platzierte einen schmalen Gang an die nördliche Grundstücksmauer, der durch die gesamte Länge des Grundstücks führt. Damit hat er ein entscheidendes Narrativ gefunden, das sich doppelt begründen lässt. Die erste zeitliche Rückkoppelung reicht in die Hochphase der Maya-Kultur zurück. Sacbé heißen die weißen, steinernen Wege, mit denen die Tempel, Pyramiden, Plätze und andere Zeremonienstätten verbunden wurden. Sie waren mit Kalk bedeckt und maßen mitunter mehrere hundert Kilometer in der Ausdehnung.

Klimatische Erdung
Als zweite Referenz dienten die Residenzen der spanischen Kolonialherren. Zur Straße schirmen sie sich durch hohe Mauern ab, die lediglich von einem Tor durchbrochen werden. Dahinter reihen sich mehrere Innenhöfe aneinander, zu denen sich die Wohnräume öffnen. Zwischen den Patios weht stets ein frischer Wind, der für eine natürliche Abkühlung sorgt. In Yucatán, wo ein durchgehend tropisches Klima herrscht und die Temperaturen im Mai auf über 40 Grad Celsius klettern, ein entscheidender Pluspunkt. „Viele Jahrhunderte lang wurde so gebaut. Es hat das Bild von Mérida geformt, bis die Klimaanlagen Einzug hielten und andere Arten von Architektur ermöglichten“, sagt Ludwig Godefroy.

In vielen Teilen der Stadt laufen die Klimageräte heute rund um die Uhr, was dazu führt, dass sich sowohl die Gebäude als auch die Menschen von der Natur entgrenzen. „Wie können wir von dieser übermäßigen Nutzung einen Schritt zurückgehen?“, fragt der gebürtige Franzose, der im Büro von OMA in Rotterdam gearbeitet hat, bevor er sich dauerhaft in Mexiko niederließ. Der aus Beton gegossene Gang, der durch die gesamte Länge des Grundstücks führt, dient nicht nur zur Erschließung der Wohnräume und dem Schaffen von Sichtverbindungen. Er bewirkt eine kühlende Querlüftung, die beständig brummende Klimaanlagen überflüssig macht.

Positiv und negativ
Direkt nach dem Betreten des Tores folgt ein Innenhof, der eine Art Pufferzone zur Stadt definiert. Die Wohnräume sind in drei getrennten, ein- bis zweigeschossigen  Baukörpern untergebracht, die von weiteren Höfen durchbrochen werden. „Der Grundriss folgt dem Rhythmus aus positiv und negativ, aus bebauten und unbebauten Flächen, die sich gegenseitig abwechseln“, bringt Ludwig Godefroy das Konzept auf den Punkt. „Das Gebäude schließt die Menschen nicht ein, bleibt offen, atmet unentwegt, während es für das notwendige Gefühl von Schutz und Privatsphäre sorgt“, erklärt der Architekt. Die Freiräume schaffen die Distanz, um die Skulpturalität der einzelnen Baukörper in ihrer gesamten Komplexität zu erfahren.

Modernistische Referenzen 
Hier wandelt Godefroy ganz unverhohlen auf den Spuren modernistischer Schwergewichte: Nicht nur die Wind- und Sonnenfänger sowie die runden Wandöffnungen – deren Form keinem präzisen Kreis, sondern der Silhouette eines Kieselsteins folgt – lassen an Le Corbusier und Louis Kahn denken. Es ist die omnipräsente Materialität von Sichtbeton, die lediglich von hölzernen Schattenlamellen und Möbeln kontrastiert wird. Auch die Kücheninsel im hintersten Baukörper ist aus Beton gefertigt. Daneben wurde eine kreisrunde Sitzecke mit türkisfarbenen Polstern in den Boden eingelassen. Im davor gelagerten Gebäudeteil führt eine Betontreppe zu einer Sonnenterrasse hinauf und lässt mit ihren breiten Stufen an eine domestizierte Variation einer Maya-Pyramide denken.

Ganz am Ende des Grundstücks wird der Pool von aufragenden Wänden eingefasst. Die Szenerie erinnert an den Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe, wenngleich auch hier mit Sichtbeton eine deutlich rauere Materialität gewählt wurde als bei dem mit Naturstein verkleideten Originalentwurf. Der Zugang erfolgt über ein L-förmiges Betonelement, das sich weit über das türkisfarbene Becken schiebt. Anstelle einer Georg-Kolbe-Skulptur ragt ein leerer Sockel aus dem Wasser hervor: zum Sitzen, Festhalten, Pause machen und als Podest, um vor dort in eine Hängematte zu klettern, die über der Wasseroberfläche schwebt.

Kreislauf des Wassers
Das kühlende Nass wird übrigens direkt vor Ort gewonnen. „Yucatán ist eine Region, die sehr reich an Grundwasser ist. Ein Loch in den Boden zu bohren und klares Wasser aus der Tiefe zu gewinnen, war die naheliegende Lösung. Um den Kreislauf der Wasserregeneration zu schließen, muss das Regenwasser jedoch in den Boden abfließen können“, sagt Ludwig Godefroy. Auf den Dächern sammeln Kollektoren aus Sichtbeton die Wassermassen, die in der von Juni bis September anhaltenden Regensaison hinabfallen. Durch breite Kanäle, die an Rutschen erinnern, werden sie in die mit Kieselsteinen bedeckten Höfe geleitet und versickern so im Boden. Die Architektur begleitet diesen Prozess nicht nur: Sie verwandelt ihn in ein Schauspiel für die Sinne – an dem die alten Mayas ebenso wie Le Corbusier sicher ihre Freude gehabt hätten.

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Projektarchitekt

Ludwig Godefroy

www.ludwiggodefroy.com

Mehr Projekte

Gebaut für Wind und Wetter

Ferienhaus im schwedischen Hee von Studio Ellsinger

Ferienhaus im schwedischen Hee von Studio Ellsinger

Ein Dorfhaus als Landsitz

Wohnumbau von Ricardo Azevedo in Portugal

Wohnumbau von Ricardo Azevedo in Portugal

Ein offenes Haus

Feministischer Wohnblock Illa Glòries von Cierto Estudio in Barcelona

Feministischer Wohnblock Illa Glòries von Cierto Estudio in Barcelona

Harte Schale, weicher Kern

Unkonventionelles Einfamilienhaus in Mexiko von Espacio 18 Arquitectura

Unkonventionelles Einfamilienhaus in Mexiko von Espacio 18 Arquitectura

Zwischen Bestand und Zukunft

Umbau einer Kölner Doppelhaushälfte durch das Architekturbüro Catalanoquiel

Umbau einer Kölner Doppelhaushälfte durch das Architekturbüro Catalanoquiel

Offen für Neues

Nachhaltige Renovierung einer flämischen Fermette durch Hé! Architectuur

Nachhaltige Renovierung einer flämischen Fermette durch Hé! Architectuur

Baden unter Palmen

Studio Hatzenbichler gestaltet ein Wiener Loft mit Beton und Grünpflanzen

Studio Hatzenbichler gestaltet ein Wiener Loft mit Beton und Grünpflanzen

Maßgeschneidertes Refugium

Georg Kayser Studio verbindet in Barcelona Altbau-Charme mit modernem Design

Georg Kayser Studio verbindet in Barcelona Altbau-Charme mit modernem Design

Rückzugsort im Biosphärenreservat

MAFEU Architektur entwirft ein zukunftsfähiges Reetdachhaus im Spreewald

MAFEU Architektur entwirft ein zukunftsfähiges Reetdachhaus im Spreewald

Im Dialog mit Le Corbusier

Umbau eines Apartments im Pariser Molitor-Gebäude von RREEL

Umbau eines Apartments im Pariser Molitor-Gebäude von RREEL

Warschauer Retrofuturimus

Apartment mit markantem Raumteiler von Mistovia Studio

Apartment mit markantem Raumteiler von Mistovia Studio

Trennung ohne Verluste

Ferienhaus im Miniformat auf Usedom von Keßler Plescher Architekten

Ferienhaus im Miniformat auf Usedom von Keßler Plescher Architekten

Architektur auf der Höhe

Wohnhaus-Duo von Worrell Yeung im hügeligen New York

Wohnhaus-Duo von Worrell Yeung im hügeligen New York

Architektur im Freien

Pool und Pergola von Marcel Architecten und Max Luciano Geldof in Belgien

Pool und Pergola von Marcel Architecten und Max Luciano Geldof in Belgien

California Cool

Mork-Ulnes Architects restaurieren das Creston House von Roger Lee in Berkeley

Mork-Ulnes Architects restaurieren das Creston House von Roger Lee in Berkeley

40 Quadratmeter Einsamkeit

Ländliches Ferienhaus von Extrarradio Estudio in Spanien

Ländliches Ferienhaus von Extrarradio Estudio in Spanien

Von der Ruine zum Rückzugsort

Wertschätzender Umbau von Veinte Diezz Arquitectos in Mexiko

Wertschätzender Umbau von Veinte Diezz Arquitectos in Mexiko

Zwischen Alt und Neu

Architect George erweitert Jahrhundertwendehaus in Sydney

Architect George erweitert Jahrhundertwendehaus in Sydney

Co-Living mit Geschichte

Umbau des historischen Metropol-Gebäudes von BEEF architekti in Bratislava

Umbau des historischen Metropol-Gebäudes von BEEF architekti in Bratislava

Aus dem Schlaf erwacht

Kern Architekten sanieren das Vöhlinschloss im Unterallgäu

Kern Architekten sanieren das Vöhlinschloss im Unterallgäu

Archäologie in Beton

Apartment-Transformation von Jorge Borondo und Ana Petra Moriyón in Madrid

Apartment-Transformation von Jorge Borondo und Ana Petra Moriyón in Madrid

Geordnete Offenheit

Umbau eines Einfamilienhauses von Max Luciano Geldof in Belgien

Umbau eines Einfamilienhauses von Max Luciano Geldof in Belgien

BAYERISCHES DUO

Zwei Wohnhäuser für drei Generationen von Buero Wagner am Starnberger See

Zwei Wohnhäuser für drei Generationen von Buero Wagner am Starnberger See

Über den Dächern

Umbau einer Berliner Penthousewohnung von Christopher Sitzler

Umbau einer Berliner Penthousewohnung von Christopher Sitzler

Schwebende Strukturen

Umbau eines maroden Wohnhauses von Bardo Arquitectura in Madrid

Umbau eines maroden Wohnhauses von Bardo Arquitectura in Madrid

Camden Chic

An- und Umbau eines ehemaligen Künstlerateliers von McLaren.Excell

An- und Umbau eines ehemaligen Künstlerateliers von McLaren.Excell

Aus Werkstatt wird Wohnraum

Umbau im griechischen Ermionida von Naki Atelier

Umbau im griechischen Ermionida von Naki Atelier

Londoner in der Lombardei

Tuckey Design Studio verwandelt ein Wohnhaus am Comer See

Tuckey Design Studio verwandelt ein Wohnhaus am Comer See

Zwischen Stroh und Stadt

Nachhaltiges Wohn- und Atelierhaus Karper in Brüssel von Hé! Architectuur

Nachhaltiges Wohn- und Atelierhaus Karper in Brüssel von Hé! Architectuur

Flexibel zoniert

Apartment I in São Paulo von Luiz Solano

Apartment I in São Paulo von Luiz Solano