Stories

Brasilias grafischer Soundtrack

von Cordula Vielhauer, 01.12.2009


Athos Bulcão ist ein stiller Nationalheld Brasiliens. Ohne seinen Beitrag wären viele der architektonischen Ikonen Oscar Niemeyers nur halb so schön, doch kennt ihn außerhalb des Landes kaum jemand. Eines der Hauptbeschäftigungsfelder des im Jahr 2008 verstorbenen Künstlers und Designers Bulcão waren Fliesenreliefs und großformatige Wandbilder – auch sie aus Keramik. Die bekanntesten von ihnen findet man in und an den Gebäuden Niemeyers in Brasilia. Sie bilden den grafischen und farbigen Subtext des Regierungsviertels, den sublimen Soundtrack zur Reise durch die Hauptstadt. Die Wand ist bei Bulcão eben nicht nur trennende zweidimensionale Fläche, sondern farbiges Bild, Relief mit Tiefenwirkung und sogar räumliches Korrektiv.



1918 in Rio de Janeiro in einer bürgerlichen Familie geboren, wurde seine Umgebung bald auf die künstlerische Begabung des jungen Athos aufmerksam. Früh lernte er eine Reihe der wichtigsten brasilianischen Künstler kennen, einer davon war Brasiliens wohl berühmtester Maler Candido Torquato Portinari, mit dem er – gerade 21 Jahre alt – als Assistent beim Wandbild der Kirche des Heiligen Franz von Assisi da Pampulha (Belo Horizonte) zusammenarbeitete. Hier traf Bulcão auch Oscar Niemeyer, der mit der wie ein Hangar geformten Kirche den Schlussstein seines architektonischen Ensembles in Pampulha setzte. Sie gilt als wichtigster Bau dieser Gruppe. Bald schon beauftragte Niemeyer Bulcão direkt – angetan vom grafischen Repertoire des Künstlers. So wurden beispielsweise die Außenwände der Wohnhäuser für die Familien Kaufman und Parada im Poolbereich mit Mosaiken nach Entwürfen von Athos Bulcão geschmückt. Daneben war er als Designer für das brasilianische Erziehungs- und Kultusministerium tätig, für das er Broschüren und Bücher illustrierte oder auch Plattencover entwarf. Zudem zeichnete er für zahlreiche Bühnen- und Kostümbilder verantwortlich, bevor er mit der Gründung der neuen Hauptstadt in den sechziger Jahren zu einem ihrer meistbeschäftigten künstlerischen Mitgestalter avancierte. Bulcão selbst verglich seine Arbeitsbeziehung zu Oscar Niemeyer einmal mit derjenigen zwischen dem Regisseur Federico Fellini und dem Komponisten Nino Rota: Während Niemeyer die Räume entwarf, lieferte er die Farben und grafischen Momente dazu.

Vielfalt und Tiefe

Was macht das Werk Athos Bulcãos aus? Vielleicht ist es die Bandbreite, die enorme Vielfalt, die die Projekte des Künstlers kennzeichnen: Vom schlichten, schwarz-weißen Grafikdesign bis zur großen Skulptur fand Bulcão für jede Aufgabe eine individuelle Lösung. Doch uns interessiert an dieser Stelle ein anderer Aspekt: Bulcão arbeitete an der Schnittstelle von zwei- und dreidimensionaler Gestaltung. Besonders deutlich wird dies bei seinen Wandreliefs, die einen stark skulpturalen Charakter haben. Diese „Dreidimensionalität im Zweidimensionalen“ ist aber nicht die eigentliche Besonderheit seiner Arbeit – sie zeichnet ja im Grunde jedes gelungene Relief aus –, sondern die gezielte räumliche Wirkung, die seine Wandgestaltung entfaltet. Bulcão wurde von Niemeyer regelrecht zur räumlichen Korrektur missglückter Projekte eingespannt – zumindest belegt dies der Kunsthistoriker Agnaldo Farias auf überzeugende Weise in seinem Artikel „Athos Bulcão, known and ignored“. Er zieht dabei drei Beispiele aus der Zusammenarbeit zwischen Architekt und Künstler heran, bei denen das von Athos Bulcão entwickelte Relief beziehungsweise Mosaik den Raumeindruck des Gebäudes maßgeblich beeinflusst: die Gestaltung der Rückwand der Eingangshalle des Nationalkongresses, das weiße Marmorrelief des Salons im Itamaraty Palast und das Fassadenrelief des Nationaltheaters.

Räumliche Korrektur

Die Intention Bulcãos lag beim Nationalkongress in der Reduzierung der monumentalen Wirkung der Eingangshalle: Das von ihm eingesetzte Muster aus gebrochenen Linien an dessen Rückwand gab dem riesigen, durch zwei Säulen noch größer wirkenden Raum plötzlich einen menschlichen Maßstab. Ähnlich verhielt es sich beim Entwurf für die Fassade beziehungsweise die Giebelaußenwände des Nationaltheaters: Dieser pyramidenartige Ausschnitt war in seiner Größe schier maßstabslos. Erst durch die Integration eines von Bulcão gestalteten Reliefs, das aus der Variation und Division eines einzigen Moduls bestand, erhielt er eine im Wortsinn „begreifbare“ Relation. Zudem wirkt die Haut des Theaters nun fast wie ein abstraktes Städtebaumodell, eine Art Architektur auf der Architektur. Beim Itamaraty-Palast schließlich geben die ruhigen, trapezförmigen Einkerbungen der langen Wandabwicklung des Salons nicht nur einen lebendigen Rhythmus vor, sie strecken auch optisch den aufgrund seiner Weite zu niedrig wirkenden Raum.

Aleatorische Kompositionen

Der Palacio do Itamaraty in Brasilia gehört überhaupt zu jenen Gebäuden, bei denen Bulcãos  gestalterische Virtuosität gut zur Geltung kommt. So stehen die glatten, von weitem fast flimmernden, aus der Nähe jedoch deutlich als grafische Muster erkennbaren Fliesenverkleidungen der geschwungenen Wände des Palastes im klaren Kontrast zu der rauhen Betonoberfläche der Außenwege oder der organischen Offenheit der den Erweiterungsbau begleitenden Beete. Besonders beeindruckt dieser Kontrast auch bei der Schule „407/08 Nord", die allerdings vor allem eine weitere Besonderheit von Bulcãos Werk aufweist: die bewusste Integration des Zufälligen in seinen Kompositionen. Das Verlegen der vom Künstler selbst entworfenen 15 x 15 Zentimeter großen Fliesen – genau gleich viele weiße, schwarze und solche, die zu 2/3 weiß und zu 1/3 schwarz sind – wurde hier nämlich nicht von Bulcão vorgegeben. Vielmehr sollten die ausführenden Handwerker selbst entscheiden, wie sie das Muster anlegen wollten. Damit bezieht Athos sich laut Agnaldo Farias auf den amerikanischen Künstler Sol Le Witt und dessen Statement, dass die Ausführung eines Werkes irrelevant sei, sobald der Künstler alle für den Prozess notwendigen Setzungen vorgegeben hätte.

Farbverläufe im Alltag

Neben Kunsthochschule, Kongressgebäude, Kirchen, Ministerien und einer Vielzahl von Botschaftsgebäuden im Ausland wurden auch einfache Nutzbauten durch die Wandbilder Athos Bulcãos veredelt: ein Toilettenhäuschen im Stadtpark oder der Blumenmarkt (Mercado das Flores) ebenso wie das Terminal des Flughafens Juscelino Kubitschek oder der Kindergarten im Neurologischen Krankenhaus Sarah-Lago Norte. Bei Letzterem gibt es übrigens auch eine Trennwand aus vertikalen Stäben, die innerhalb abgegrenzter Felder diverse Farbverläufe abbildet. In großem Stil und als Fassadenverkleidung findet man ein zwar ganz anders aufgebautes, doch ähnliches Motiv – allerdings nicht von Bulcão gestaltet – bei einem erst 2008 eröffneten Gebäude: dem Museum Brandhorst in München von Sauerbruch Hutton Architects (London/Berlin). Wenn man sich über Jahre mit Keramik und Farben beschäftigt, kommt man eben an Athos Bulcão irgendwann nicht mehr vorbei.
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Links

Stiftung Athos Bulcão

www.fundathos.org.br

Haus Osler in Brasilia

Im Zeichen der Moderne

www.designlines.de

BAUNETZWOCHE zu Brasilia

PDF-Download: Anneke Bokern hat sich in der fünfzigjährigen Metropole umgesehen

www.baunetz.de/woche

BAUNETZWOCHE zur Stiftung Brandhorst

PDF-Download: Benedikt Hotze spricht in München mit Mathias Sauerbruch (PDF mit Videos)

www.baunetz.de/woche

Essay von Agnaldo Farias

zum Werk Bulcãos und zur Beziehung zwischen Künstler und Architekt allgemein

www.fundathos.org.br

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