Menschen

Mathieu Lehanneur

von Norman Kietzmann, 23.03.2010


Mathieu Lehanneur setzt Design und Wissenschaft in Verbindung. Geboren 1974 im westfranzösischen Rochefort, studiert er an der Ecole National Supérieure de Création industrielle (ENSCI) in Paris Industriedesign und macht sich nach seinem Abschluss 2001 mit einem eigenen Büro in Paris selbständig. Schon während des Studiums beginnt er, wissenschaftliche Untersuchungen gezielt in seine Arbeiten einfließen zu lassen und entwickelt mit seinen „therapeutischen Objekten“ Produkte, die die Einnahme von Medikamenten für Patienten erleichtern. Werden diese Entwürfe auf Anhieb in die ständige Sammlung des MoMA aufgenommen, entwickelt er unterdessen Luftfilter anhand von Studien der NASA, inszeniert eine Ausstellung über den Interaction-Designer John Maeda und entwirft Interieurkonzepte für den Harvard-Professor David Edwards. Zu seinen Kunden zählen neben Galerien und Institutionen längst Unternehmen wie Issey Miyake, Cartier, Veuve Clicquot, der französische Energieriese EDF oder Poltrona Frau. Wir trafen Mathieu Lehanneur in seinem Pariser Studio und sprachen mit ihm über imaginäre Boxer, Sciencefiction im Wohnzimmer und eine Maschine, die sanft in den Schlaf führt.



Monsieur Lehanneur, bereits seit Ihren frühen Arbeiten dienen Ihnen naturwissenschaftliche Untersuchungen als Grundlage für Ihre Entwürfe. Was fasziniert Sie an der Welt der Forschung?

Dass es um die Beziehung zwischen den Menschen geht. Sie erklärt, wie der Körper und die Organe funktionieren und führt uns damit sehr nah zu uns selbst. Auch wenn ich bei meinen Arbeiten die Naturwissenschaft häufig hinzuziehe, steht sie jedoch nie am Anfang eines Projektes. Ich nehme mir keine Erfindungen und überlege mir dann, welche Gegenstände ich daraus entwickeln kann. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern dient dazu, eine Aufgabe zu lösen.

Ihre Pflanzschale „Bel Air“ zum Beispiel entpuppt sich als ein Filtersystem, mit dem die Luft in Innenräumen von chemischen Gasen befreit werden kann. Ein ungewöhnliches Thema für einen Designer?

Die Luft ist ein Element, das mich besonders interessiert. Allein schon, weil sie ständig um uns ist, egal wo wir uns befinden. Die Idee hinter dem Projekt war es, all jene giftigen Gase herauszufiltern, die in Innenräumen von Möbeln, Elektrogeräten bis hin zur Farbe an den Wänden abgegeben werden. Auch wenn wir sie nicht riechen oder gar sehen können, ist die Konzentration dieser Werte beachtlich.

Als Grundlage für Ihren Entwurf dienten Ihnen Untersuchungen der NASA, die ein ähnliches Verfahren für den Einsatz in Raumschiffen entwickelte.

Ja, denn in Raumschiffen tritt diese Art der Luftverschmutzung noch deutlicher hervor als bei uns auf der Erde. Die Raumkapseln sind aus Metall, Kunststoff und Isoliermaterialien gefertigt, die allesamt kontinuierlich toxische Gase in die Luft abgeben. Als die Astronauten nach einem längeren Aufenthalt im All zurück auf die Erde kamen, lag in ihren Blutwerten der Anteil chemischer Verbindungen deutlich über dem, was zulässig ist. Die NASA hat darin ein gravierendes Problem erkannt und zwischen 1985 und 1994 zahlreiche Untersuchungen angestellt, wie sich die Luft in Raumschiffen verbessern lässt. Makabererweise wurden Ihre Ergebnisse bis heute nicht angewendet. Für Astronauten gelten noch immer dieselben Bedingungen wie noch vor dreißig Jahren.

Wie genau funktioniert das System?

Es besteht aus einer schützenden Hülle, in der sich eine Pflanze befindet. Ein Ventilator saugt Luft von außen in die Kapsel hinein, wo sie von der Pflanze aufgenommen und anschließend über deren Wurzeln wieder ausgestoßen wird. Dieses Verfahren geht über die Photosynthese weit hinaus, da somit die Schmutzpartikel aus der Luft vollständg gefiltert werden. Auch wenn wir die Entgiftung mit unseren Sinnen zunächst nicht wahrnehmen können, atmen wir dennoch eine deutlich bessere Luft ein als zuvor. Den Effekt merken wir nicht sofort, sondern daran, dass wir vielleicht zehn Jahre länger leben oder unsere Kinder weniger Allergien bekommen. Vielleicht lässt sich auch das Risiko von Krebs auf diese Weise reduzieren. Die Auswirkungen sind derzeit noch nicht absehbar.

Die transparente Hülle gibt den Pflanzen zudem den Eindruck von etwas äußerst Fragilem...

Es stimmt. In dem Augenblick, wo etwas hinter Glas gestellt wird, bekommt es automatisch den Anschein von etwas Wertvollem. Zumal man auch denken könnte, dass es die Pflanze ist, die vor uns geschützt werden müsse. Dennoch ging es weniger darum, eine Hommage an die Natur abzubilden als um die Frage, wie man der Natur helfen kann, ihre Arbeit noch besser zu machen.

Der Bezug zur Natur findet sich auch bei Ihrem Projekt Local River, bei dem Sie Süßwasserbecken für die Fischzucht ins Wohnzimmer geholt haben. Ein Plädoyer für die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln?

In gewissem Sinne ja. Es ging um die Frage, ob es nicht möglich wäre, einen Teil der Nahrungsmittelproduktion wieder in das eigene Zuhause zu holen. Indem wir ein Stück lebendiger Natur in unseren Alltag implantieren, werden wir wieder zu Jägern, die ihren Fisch selbst erlegen müssen. Dabei ist es nicht schlimm, wenn man anfangs noch Bedenken hat. Das System funktioniert schließlich wie ein Aquarium und kann auch nur angeschaut werden. Doch nach ein oder zwei Jahren sind die Menschen vielleicht bereit, selbst einen Fisch zu töten und zuzubereiten.

Sie bringen auf diese Weise zugleich einen Teil von jener Brutalität zurück, die in den sauber abgepackten Filets aus dem Supermarkt bewusst ausgeklammert wird.


Ja, denn wir haben sehr viele Ebenen zwischen uns und unsere Umwelt gelegt. Die Idee ist es, sich wieder ein wenig vom Instinkt her der Natur zu nähern. Indem wir selber Fische erlegen, wird uns stärker bewusst, was zum Überleben notwendig ist. Das sollten wir nicht vergessen. Es geht dabei weniger darum, die Natur zu glorifizieren oder an ein verlorenes Paradies zu erinnern, als vielmehr darum, zu uns selbst zu finden.

Wie gehen Sie an Ihre Projekte heran?


Ich arbeite eigentlich fast nie mit einem weißen Blatt Papier. Das bedeutet zugleich, dass ich selten mein eigener Kunde bin. Ich brauche eine Firma, eine Galerie oder eine Institution, die mich um etwas bittet. Das Projekt „l‘âge du monde“ („Das Alter der Welt“) zum Beispiel war eine Auftragsarbeit für den Showroom von Issey Miyake in Paris. Da sie mir kein Briefing gegeben haben, musste ich mir selbst ein Ziel definieren. Ich wollte eine Verbindung zwischen den Menschen in Japan und Frankreich zeigen und habe die Statistiken über das Alter der Bevölkerung in dreidimensionale Objekte übersetzt. Das Interessante daran war, dass ihre Form somit weder von mir noch von einem Wissenschaftler entwickelt wurde, sondern allein auf der Altersverteilung der Bevölkerung basiert.

Sie haben anschließend zehn dieser kegelförmigen Objekte angefertigt, darunter für die Bevölkerung von Frankreich, Japan, USA, Russland und Ägypten und den Iran. Welche Unterschiede ließen sich an ihnen ablesen?

Vor allem der Entwicklungsgrad tritt offen hervor, ebenso der Einfluss geschichtlicher Ereignisse. In Ländern wie Japan zum Beispiel gibt es viel mehr ältere Menschen als jüngere. Die Form gleicht daher einem Kegel, der sich nach unten verjüngt. Wenn man dies mit Ländern in Afrika oder Mittelamerika vergleicht, dreht sich die Form um. Auch geschichtliche Ereignisse wie die beiden Weltkriege lassen sich bis heute noch klar aus diesen Formen ablesen. Auch wenn die Objekte einerseits dekorativ sind, verbirgt sich hinter ihnen zugleich mehr.

Für Poltrona Frau haben Sie während des Design in the City-Festivals in Mailand ein „imaginäres Labor“ gezeigt und die klassischen Chesterfield-Sofas in ungewöhnliche Boxsäcke übersetzt. Was war die Idee zu diesem Projekt?

Auch hier gab es zunächst kein Briefing. „Poltrona Frau“ hatte mich nach Italien eingeladen, um ihr Werk anzuschauen und auf diese Weise eine Idee zu entwickeln. Wir haben dann eine Tour durch das gesamte Werk gemacht, wo noch immer der Großteil der Arbeit von Hand erfolgt. Als wir dort angekommen waren, wo die Sofas und Lederbezüge getestet werden, musste ich jedoch schon zurück zum Flughafen, um meinen Rückflug nicht zu verpassen. Den spannendsten Teil habe ich also gar nicht gesehen. Im Flugzeug habe ich mich dann gefragt, wie ein solches Labor aussehen könnte. Also dachte ich, dass es auch dort keine Maschinen geben würde und sie womöglich mit Boxhandschuhen auf die Chesterfield-Sofas einschlagen würden. So entstand die Idee zu den Boxsäcken, die wir dann in Mailand und anschließend in Paris gezeigt haben. 

Ein Labor der etwas anderen Art haben Sie für den Harvard-Professor David Edwards in Paris entwickelt. Das Büro des Direktors des Ausstellungszentrums „le laboratoire“ verfügt weder über einen Schreibtisch noch einen Drehstuhl.


Ja, das war eine sehr schöne Erfahrung. David Edwards habe ich während des Projekts „Bel Air“ kennen gelernt, und wir sind seitdem in Kontakt geblieben. Als er mich gebeten hatte, die Einrichtung seines Büros sowie des Shops des Zentrums zu entwerfen, hatte er alles andere als das Bild eines klassischen Büros im Kopf. Wir haben uns vorab mehrfach getroffen, und er hat mir erklärt, auf welche Weise er arbeitet. Er sagte mir, dass er keinen Schreibtisch benötige und ebenso auf dem Bett oder in einem Sessel arbeiten könne. Er brauche lediglich eine Sitzunterlage, auf der er bequem Platz nehmen und auch ein wenig schlafen könne, ebenso eine große Tafel, an die er Dinge schreiben könne, während er mit einem Studenten diskutiert oder ein Meeting stattfindet. Das Schöne an diesem Projekt war, dass das Ergebnis überhaupt nicht an ein Büro erinnert, sondern eher an eine Grundschule. Man weiß zunächst nicht, worum es sich handelt. Da sich das Büro im Erdgeschoss befindet und über ein großes Schaufenster verfügt, können die Passanten ihm bei der Arbeit zuschauen. Das macht die Wissenschaft viel greifbarer, als wenn sie hinter verschlossenen Türen betrieben wird.

Während der Mailänder Möbelmesse 2010 werden Sie ein Hotelinterieur für Veuve Clicquot präsentieren. Was können wir uns darunter vorstellen?

Es ging darum, ein Konzept für ein Hotel in Reims zu entwickeln, wo das Unternehmen besondere Gäste empfängt. Es verfügt nur über sieben Zimmer und ist in einem historischen Gebäude untergebracht. Meine Idee war es, eine Art ideale Maschine zu erfinden, um zur Ruhe zu kommen, einzuschlafen und morgens wieder aufzuwachen. Ich habe hierfür mit einem Spezialisten vom Krankenhaus in Lyon zusammengearbeitet. Er heißt Alain Nicolas und beschäftigt sich seit Jahren mit Untersuchungen zum Thema Schlaf. Wir haben ein Szenario entwickelt, bei dem Licht, Sound und Temperatur gezielt verändert werden, um die idealen Bedingungen herzustellen, die das Einschlafen und Aufwachen erleichtern.

Wie sieht dieses Szenario aus?

Das Interieur wird mit dem Licht spielen, das sich vor dem Einschlafen nicht abrupt, sondern kontinuierlich verringert. Ebenso mit einem Ton, der als leichtes, weißes Rauschen die übrigen Geräusche um uns herum schluckt. Und dann die Temperatur: Ein leichter Abfall oder Anstieg der Temperatur bewirkt, dass sich der Körper zum Einschlafen oder Aufwachen bereit macht. Zum Einschlafen ist es am Besten, wenn die Raumtemperatur von 21 Grad innerhalb einer Stunde um zwei Grad Celsius sinkt. Dieses leichte Abfallen der Temperatur wirkt auf den Körper wie ein Schlafmittel. Wenn am Morgen die Temperatur von 19 auf 21 Grad wieder ansteigt, wacht der Körper automatisch auf. Ich denke, die natürlichen Prozesse im Körper zu nutzen, kann sehr hilfreich sein. Egal, ob es um den Schlaf, die eigene Ernährung oder bessere Luft geht. Das Design sollte sich dieser Mechanismen viel gezielter bedienen.

Vielen Dank für das Gespräch.
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Mathieu Lehanneur

www.mathieulehanneur.com

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