Menschen

Tokujin Yoshioka

von Norman Kietzmann, 09.11.2010


Tokujin Yoshioka geht an die Grenzen der Materialität. Geboren 1967 in der japanischen Präfektur Saga, studiert er an der Kuwasawa Design School in Tokio unter Shiro Kuramata (1987-1988) und Issey Miyake (1988-1992) Industriedesign. Miyake ist für ihn nicht nur Lehrer, sondern wird zu seinem Arbeitgeber und Mentor, mit dem ihm eine über 20jährige Zusammenarbeit verbindet. Nach der Gründung seines eigenen Designbüros in Tokio im Jahr 2000 überträgt Yoshioka den experimentellen Umgang mit neuen Produktionsmethoden sowie die Faszination für alles Stoffliche, die er zuvor im Studio Miyakes kennengelernt hat, in die Welt des Möbel- und Interieurdesigns. Erinnert sein Sessel Bouquet (2008) an eine übergroße Blüte, wird sein Pane Chair (2008) zuvor im Ofen gebacken wie Brot, während sich seine Stuhlserie Invisibles (2010) scheinbar in Luft auflöst. Alles nur Spielerei? Nicht ganz, denn trotz ihrer Leichtigkeit sind Yoshiokas Arbeiten alles andere als Luftgespinste. Sie testen die Grenzen ihrer Materialien, ohne vordergründig-technisch zu sein. Anders gesagt: Sie sind Avantgarde in archaischem Gewand – und bringen den Zeitgeist damit präzise auf den Punkt. Wir trafen Tokujin Yoshioka in Mailand und sprachen mit ihm über unendliche Stühle, kristalline Aquarien und seine Verbindung zu Henri Matisse.


Herr Yoshioka, Ihre Entwürfe zeichnet stets eine leichte, beinahe zerbrechliche Materialität aus. So wirkt ihr Stuhl Memory (2010) wie eine fliegend-leichte Wolke aus Aluminiumfolie und entpuppt sich erst beim vorsichtigen Draufsetzen als ein funktionales Möbelstück. Warum versuchen Sie, den Betrachter zu irritieren?


Wenn man allein an der Form von Produkten arbeitet, kann man kaum einen Schritt nach vorne gehen. Es gibt heute so viele Möbel, die sich sehr ähneln, weil sie alle aus denselben Materialien gefertigt sind. Ich denke, als Designer müssen wir uns mindestens genau so viele Gedanken über Materialien machen wie über die Form oder Funktion eines Objektes. Mit Memory wollte ich einen Stuhl entwerfen, der statt einer festen Form eine unendliche Anzahl an Variationen besitzt, die von den Benutzern nach Belieben verändert werden können. Wie bei einem Spiel. Auch wenn das Material auf den ersten Blick wie Aluminiumfolie aussieht, ist es in Wirklichkeit ein weicher, komfortabler Stoff, in dem man bequem Platz nehmen kann. Erwartungen zu brechen, finde ich sehr reizvoll.

Wie gelangen Sie an das Wissen über neue Materialien? Auffallend ist Ihre Vorliebe für Papier, das Sie beispielsweise bei Ihrem Sofa Paper Cloud (2009) wie einen drappierten Stoff verarbeitet haben.

Ich entwickle ja keine grundlegend neuen Technologien, sondern nutze immer Dinge, die bereits vorhanden sind. Aber ich versuche, auf diese Technologien aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu schauen. Dass mich Stoffe interessieren, hat sicher auch mit meiner Arbeit für Issey Miyake zu tun, denn auch er hat stets sehr spezielle Stoffe verwendet. Auch wenn ich nicht an den Modekollektionen, sondern ausschließlich an Accessoires für ihn gearbeitet habe, konnte ich mir ein großes Wissen über alle Arten von Materialien aneignen. Allerdings verwende ich sie immer aus der Sicht eines Industriedesigners und nicht der eines Modemachers. Ich habe nicht das Wissen, um Dinge allein aus Stoff zu fertigen.

Würden Sie sagen, dass die Materialien bei Ihnen an erster Stelle stehen?


Ja, bei jedem Projekt. Wenn über Design gesprochen wird, fallen immer Begriffe wie minimalistisch, organisch oder dergleichen. Aber das ist mir nicht wichtig. Ich denke, Design ist vor allem ein gedanklicher Prozess, der zugleich sehr stark von Gefühlen geleitet wird. Das macht ihn sehr persönlich. Wenn ich an einem Gegenstand arbeite, kommt die Ästhetik an letzter Stelle. Sie ergibt sich aus den Materialien und der Verarbeitung, für die ich mich zuvor entschieden habe.

Wie kann man sich Ihren Arbeitsprozess vorstellen? In Ihrem Tokioer Büro beschäftigen Sie derzeit neun Mitarbeiter.

Wir arbeiten sehr häufig mit Modellen, auch wenn unser Raum gar nicht so groß ist. Zusammen haben wir drei Etagen, die allerdings sehr schmal sind. Auf den ersten Blick wirkt es gar nicht wie ein Designbüro, da der gesamte Boden mit Materialproben angefüllt ist. Ich kann auf diese Weise auch die Wirkung besser einschätzen, die diese Materialien aus einer gewissen Distanz entfalten. Wir arbeiten ja nicht nur an Produkten, sondern häufig an Installationen, die ganze Räume füllen. Mir ist dieser Teil der Arbeit immer sehr wichtig, da ich meine Ideen durch Installationen oft schneller und direkter ausdrücken kann als durch einzelne Produkte. Der Entwicklungsprozess im Design dagegen ist oft sehr langsam und voll von Beschränkungen.

Auf der diesjährigen Mailänder Möbelmesse haben Sie Ihre Installation Stellar für Swarovski Crystal Palace gezeigt. Was war die Idee zu dieser Arbeit, für die Sie einen gesamten Raum in Nebel gehüllt haben?


Das Konzept bestand darin, einen künstlichen Stern aus Kristallen zu schaffen. Den Nebel habe ich nur verwendet, um auf diese Weise das Licht stärker wahrzunehmen. Ich wollte dabei die natürlichen Wachstumsprozesse nutzen, nach denen sich Kristalle in der Natur bilden. Mit einem ähnlichen Prozess hatte ich bereits 2008 bei meinem Venus Chair experimentiert. Für Stellar habe ich einen Block aus weichen Polyesterfasern in ein großes Aquarium gegeben und mit einer Lösung aufgefüllt, in der zuvor Mineralien geschmolzen worden waren. Auf den Polyesterfasern haben sich daraufhin auf natürliche Weise Kristalle gebildet und Stück für Stück zur späteren Struktur verdichtet. Es hat fast einen Monat gebraucht, bis das Wachstum abgeschlossen war. Die Idee zu dem Projekt stammt zwar von mir. Doch die Umsetzung hat allein die Natur bewirkt.

Würden Sie Ihre Arbeit als typisch japanisch bezeichnen?

Ich bin nicht sicher. Die Leute sagen mir zwar immer wieder, wie japanisch sie meine Arbeiten finden. Aber das ist schwierig für mich einzuschätzen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Natur für mich immer eine wichtige Rolle spielt, auch wenn ich sie oft auf eine abstrakte Weise verwende. Aber so genau weiß ich es nicht. Die Dinge kommen einfach aus mir heraus.

Vielleicht liegt es an der Leichtigkeit und Transparenz, die bei Ihren Arbeiten stets eine große Rolle spielt. So haben Sie Ihre Stuhlserie Invisibles (2010) aus einem transparenten Block Kunststoff gearbeitet, die Benutzer sitzen scheinbar in der Luft.

Mich fasziniert Transparenz, weil sie nie statisch ist. Wenn Licht auf transparente Gegenstände trifft, beginnen sie automatisch, sich zu verändern und auf ihre Umgebung zu reagieren. Licht ist ein sehr wichtiger Teil in meiner Arbeit. Ich nutze es beinahe selbst wie ein Material, das sich verformen und bearbeiten lässt. Als Vorlage für die Invisibles diente übrigens eine gläserne Bank, die ich für mein Büro in Tokio entworfen hatte. Als mich Claudio Luti, der Chef von Kartell, vor drei Jahren besuchte, gefiel ihm diese Bank und er fragte mich, ob es möglich wäre, dasselbe Konzept auch in Kunststoff umzusetzen. Und so begann das Projekt, das jedoch alles andere als leicht war. Denn transparenter Kunststoff lässt sich nur sehr schwer verarbeiten. Jeder Fehler – auch wenn er an der Innenseite der Objekte passiert – ist schließlich sofort sichtbar. Die Herausforderung lag also vor allem auf der technischen Seite.

Für die Präsentation der Objekte haben Sie eine Installation von hunderttausenden transparenten Kunststoff-Stäbchen in den Schaufenstern des Mailänder Kartell-Showrooms platziert. Können Sie sich vorstellen, auch Räume zu gestalten, die nicht nur temporär bleiben?

Die Verbindung zur Architektur hat mich schon immer gereizt. Künftig möchte ich stärker in diese Richtung arbeiten. Anfang Mai habe ich in Seoul das Projekt Rainbow Church vorgestellt, das mir schon durch den Kopf ging, als ich Anfang zwanzig war. Ich besuchte damals die Rosenkranzkapelle in Vence in der Nähe von Nizza besucht, die von Henri Matisse gestaltet worden war. Der ganze Raum war von seinen wunderbar-leuchtenden Farben erfüllt, die von dem hellen Sonnenlicht verstärkt wurden. Das hat mich nicht wieder losgelassen. Seitdem wollte ich ein Gebäude entwerfen, in dem sich Licht auf eine ähnlich intensive Weise erfahren lässt.

Aber warum ausgerechnet eine Kapelle? Sind sie religiös?


(lacht) Nein, ich bin nicht religiös. Doch die Kapelle in Vence gab mir eine sehr konkrete Vorstellung von der Raumwirkung, die ich erreichen wollte. Denn Licht nimmt man in einer Kirche viel intensiver wahr als in jedem anderen Raum. Mein Entwurf für die Rainbow Church ist allerdings kein ganzes Gebäude, sondern lediglich ein Fenster. Es ist neun Meter hoch und besteht aus fünfhundert vertikalen Prismen. Wenn das Sonnenlicht in sie hineinfällt, werfen sie ein ganzes Feld aus Regenbogenmustern auf den Boden, das sich mit dem Stand der Sonne ständig verändert. Für mich liegt darin der erste Schritt in Richtung Architektur. Auch wenn es im Moment noch zu früh ist, möchte ich irgendwann einmal auch ein ganzes Gebäue entwerfen. Wer weiß, vielleicht wird es ja eine Kirche.

Vielen Dank für das Gespräch.
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Links

Tokujin Yoshioka Design

www.tokujin.com

Swarovski Crystal Palace

www.swarovskicrystalpalace.com

Salone del Mobile 2010

www.designlines.de

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