Raumschiff mit Strickpullover
Gelandet: In den italienischen Hochalpen ragt seit Ende Oktober ein rot-weißes Ufo am Fuße des Montblanc hinaus. In einer Höhe von 2835 Metern können Bergsteiger in der Überlebenskapsel Gervasutti übernachten und ihre Kräfte für den weiteren Aufstieg auftanken. Entwickelt wurde die Wohneinheit aus vorgefertigten Bauteilen vom italienischen Hersteller LEAP Factory und soll als modulares System künftig auch in anderen Regionen der Alpen zum Einsatz kommen.
Wenn es Nacht wird im Hochgebirge, beginnt für Bergsteiger die Zeit des Wartens. Ein gefährlicher Moment, da ihnen nicht nur zunehmende Müdigkeit und nachlassende Kräfte zu schaffen machen, sondern ebenso Winde und sinkende Temperaturen. Bereits 1948 wurde am Fuße des Montblanc eine erste „Biwakschachtel“ eingeweiht, in der Bergsteiger auf einer Höhe von 2835 Metern die Nacht geschützt verbringen können, bevor sie am nächsten Morgen den Aufstieg zum Gipfel fortsetzen.
Ihren Namen verdankte die winzige Überlebenskapsel dem italienischen Bergsteiger Giusto Cervasutti, der in den dreißiger und vierziger Jahren als international gefeierter Alpinist galt. Dieser verunglückte am 16. September 1946, als er sich von der nordöstlichen Flanke des Mont Blanc du Tacul abseilen wollte. Der Pfeiler, an dem sich der tödliche Unfall ereignet hatte, wurde später nach Cervasutti benannt wie auch die Station, die zu Füßen des gefährlichen Anstiegs errichtet wurde.
Modulare Raumstation
Bislang sind Biwakschachteln zumeist primitive, vorgefertigte Bauten aus Wellblech, Holz oder Kunststoff, die auf ihrer wetterabgelegenen Seite über einen schmalen Einstieg verfügen. Wind und Schnee werden durch eine geschlossene Hülle zwar fern gehalten, doch dafür sind die Kapseln nur minimal gegen die eindringende Kälte isoliert. Auch die Ausstattung ist eher spartanisch mit Decken, Schneeschaufeln und einigen Kerzen, während auf Strom, fließendes Wasser oder Toiletten ganz verzichtet werden muss. Wer als Sportler gelernt hat, sich mit dieser Umgebung zu arrangieren, wird sich verwundert die Augen reiben, wenn er die neue Cervasutti-Kapsel betritt.
Mitte Oktober ist die Station anstelle ihres Vorgängerbaus im Auftrag des italienischen Alpinclubs CAI aus Turin errichtet worden. Ausgestattet mit Betten für bis zu zwölf Personen, Toiletten, fließendem Wasser, einem Computerterminal mit Internetanschluss, funktionierender Küche mit Induktionsherd, großem Esstisch sowie einem Wohnbereich mit Panoramablick, wird die Biwakschachtel zum komfortablen Hotel in den Bergen. Entworfen wurde die rund 250.000 Euro teure Station vom Turiner Unternehmen LEAP Factory (die Abkürzung steht für „Living, Ecological, Alpine Pod“) aus vorgefertigten Modulen, die in die Funktionen Wohnen, Schlafen, Eingangs- sowie Sanitärbereich unterteilt wurden.
Wohnliche Qualitäten
Die Module wurden innerhalb von zwei Tagen mit dem Helikopter einzeln hinauf transportiert und dort miteinander verbunden wie die Bauteile einer Weltraumstation. Lediglich sechs Ankerpunkte genügten, um die Station im Fels zu verankern. Über seitliche Bullaugen sowie eine vollständig verglaste Fensterfront zur Talseite bietet diese eindrucksvolle Ausblicke auf die alpine Kulisse. Ein Modell, das in seiner Flexibilität und Erweiterbarkeit Schule machen soll. Schließlich sollen noch weitere Stationen nach Vorbild der Cervasutti-Kapsel in den italienischen Alpen entstehen, deren Größe und Ausstattung an den jeweiligen Ort angepasst werden kann.
Ermöglicht wird der ungewöhnliche Komfort durch ein Solarkraftwerk auf dem Dach der Station, das eine Leistung von 2,5 KwH erzeugt und diese in einer Batterie für die Nacht zwischenspeichert. Auf die zylindrische Außenhaut wurde dafür ein dünner Photovoltaik-Film aufgetragen, dessen Krümmung dafür sorgt, dass Schneeablagerungen zur Seite herunterrutschen und die Leistung des Kraftwerks nicht beeinflussen. Im Sanitätsmodul wurde zudem eine Heizung untergebracht, die die gesamte Station mit Wärme versorgt, während zwei thermisch abgedichteten Doppeltüren im Eingangsmodul die Kälte draußen lassen.
Hightech trifft Strick
Ungewöhnlich zeigt sich ebenso die Inneneinrichtung: Statt einer sterilen Umgebung empfangen die Bergsteiger mit Birkenholz verkleidete Wände und erzeugen ein betont wohnlichen Raumeindruck. Die Betten, die wie in den Schlafabteilen der Bahn nach unten geklappt und an die Anzahl der Gäste angepasst werden können, verfügen ebenfalls über hölzerne Rahmen. Auf Polsterungen und andere „Weichteile“ wurde bei der gesamten Inneneinrichtung aus hygienischen Gründen verzichtet, während ebenso Klassiker der Designgeschichte hinauf in luftige Höhen transportiert wurden. Vor dem großen Panoramafenster mit direktem Blick auf den träge vorbeiziehenden Freboudze-Gletscher wurden vierbeinige Hocker 60 von Alvar Aalto platziert, auf denen sich alpine Abenteuer und Tipps für die Besteigung am nächsten Morgen umso besser mit anderen Bergsteigern teilen lassen.
Charmant wirkt auch die Gestaltung der äußeren Hülle. Deren zum Tal ausgerichtete Seite wurde eigens in kräftigem Rot gehalten, um von den Bergsteigern schon von weitem erkannt zu werden. An ihren Seiten geht die vollflächige Rotfärbung in ein grobes, rot-weißes Strickmuster über, das Assoziationen an traditionelle Skimützen und Pullovern der Alpen weckt. Für die Bergsteiger ein unmissverständliches Zeichen: Sie sollen sich hier geborgen fühlen, um Kräfte für den kommenden Tag zu tanken.
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