Schöne neue Arbeitswelt
Vom Senflabor zum Callcenter in nicht einmal acht Jahren: Das sind Geschichten aus unserer Zeit. Stillstand ist der Tod, Veränderung allgegenwärtig. So auch in Dijon. Eine erst 2004 eröffnete Forschungseinrichtung des Senf-Herstellers Amora, die seit 2009 leer stand, ließ das niederländische Architekturbüro MVRDV für neue Zwecke auferstehen. Das beispielhafte Projekt zeigt aber nicht nur die vielfältigen Möglichkeiten für zeitgenössische Architektur in Zeiten der aktuellen Krise, sondern auch neue Wege in der Gestaltung von Arbeitswelten.
Das ehemalige Senflabor am Boulevard Clémenceau im Zentrum Dijons war aufgrund der vorherigen, sehr kurzen Nutzungsphase in einem derart guten Zustand, dass es im Grunde nicht einmal technisch aufgerüstet werden musste. Allein der neue Mieter – einer der größten europäischen Callcenter-Anbieter – stellte im Vergleich zum vorherigen eine abrupte inhaltliche Kehrtwende da, die die Architekten jedoch spielend leicht meisterten.
Im Bett mit dem Kollegen
Der Auftraggeber Teletech wünschte sich von den Architekten einen architektonischen Rahmen für den besonderen Schichtrhythmus seiner Angestellten, denn gearbeitet wird hier vor allem am Morgen, Nachmittag und frühen Abend. Für die daraus resultierenden, sehr kurzen Arbeitszeiten wurde eine Arbeitslandschaft konzipiert, die es den 600 Mitarbeitern möglich macht, sich jederzeit und überall niederzulassen und ihrer Betätigung nachzugehen.
MVRDV’s Designkonzept für das Callcenter richtet sich nach der Art und Weise, wie vor allem junge Menschen heutzutage arbeiten, wenn sie eben nicht am Arbeitsplatz sind: sie setzen sich mit ihrem Laptop ins Café, auf das Sofa oder das Bett, gehen unter Leute oder ziehen sich zurück – je nach Stimmungslage und zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Die niederländischen Architekten übertrugen dieses Prinzip fast eins zu eins auf die Einrichtung, indem sie vor allem bequeme Sitzmöglichkeiten verwendeten, die man aus den eigenen vier Wänden kennt – vom bequemen Loungesessel bis hin zum Bett. Dazu schufen sie unterschiedliche Raumqualitäten wie „still“, „offen“ oder „abgelegen“. Die – zumindest optischen – Grenzen zwischen Berufs- und Arbeitsleben verschwinden fast völlig.
Offene Arbeitslandschaften
Um die besondere Tiefe der Räume, die bei Laborbauten aufgrund geringerer Tageslicht-Anforderungen eine andere ist als bei Büros, auch für den neuen Nutzer optimal zu verwerten, entschieden sich MVRDV für komplett offene Räume. So konnte nicht nur eben jenes natürliche Licht in den Raum gelenkt werden – auch ergab sich dadurch die vom Auftraggeber gewünschte kommunikative Atmosphäre. Arbeiten wie auf der Großstadt-Wiese, dieser Eindruck bekräftigt sich auch durch die Ausblicke, die durch die großen Fensterbänder ins Freie gelenkt werden.
Gearbeitet wird auf terrassierten Plattformen aus Holz – so zieht sich der Gedanke der „Arbeitslandschaft“ durch alle Räume, außerdem passte das kostengünstige Material in das knappe Budget und kann schnell ein- und wieder ausgebaut werden. Einer der wenigen technischen Einbauten sind schalldämmende Akustikpaneele, die dicht gedrängt von der Decke hängen – immerhin wird hier ja viel telefoniert.
Im Goldenen Käfig
Um die Mitarbeiter auch außerhalb der Stoßzeiten bei Laune zu halten, können sie im Haus integrierte Orte wie ein Weiterbildungszentrum, ein Fitnesscenter oder eine Galerie besuchen. Rundherum wird alles getan, damit sich die Menschen wohl fühlen.
Das Teletech Callcenter zeigt so auf eindrucksvolle Weise die Möglichkeiten, aber auch die Risiken des Büros als Lebensraum. Die Arbeitsräume und -strukturen werden immer mehr auf die Bedürfnisse der Angestellten eingestellt, was auf der einen Seite Wertschätzung und Verständnis zeigt, aber auch im Sinne der Unternehmen ist: Die Firma ist das Leben, und das Leben ist die Firma ... Willkommen in der schönen neuen Arbeitswelt!