Antonino Cardillo: Architektur und Wahrheit / Teil 3
Ein Kennenlernen auf Sizilien.

Keine fünf Schritte um die Ecke öffnet er in einer schmalen Gasse eine kleine grüne Tür. Willkommen in der Wirklichkeit von Cardillo!
III
Reality doesn’t exist.
Antonino Cardillo arbeitet in Serien. Er dekliniert dabei einen bestimmten Aspekt Schritt für Schritt durch und baut eine Art Manifest – wenngleich nicht immer aus Stein. Bei den Imagined Houses geht es vordergründig um die Geometrie und Komposition eines Gebäudes, inspiriert von römischen Ruinen oder den Kurven der Historie. Dass seine Architektur eine über die äußere Realität hinausgehende Dimension hat, arbeitete er in seiner ersten Reihe bereits deutlich heraus – nur fehlte vielleicht die Angabe, ob es sich bei den Bildern um Fotos oder um Visualisierungen des Architekten handelte. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und virtuellen Räumen verschwimmen bei jedem Haus, die Bauplätze verortete Cardillo jedoch, auch wenn die Ortsangaben auf seiner Webseite etwas anderes behaupten, in sieben Gegenden rund um Trapani. Es seien historische Schauplätze der Odyssee, die Theorien des britischen Gelehrten Samuel Butler (1835–1902) zufolge nicht in Griechenland, sondern rund um Trapani (lateinisch Drepanum) liegen. Selbst das Ithaka Homers, Heimat des Odysseus, das gewöhnlich mit der heutigen Insel Ithaka oder einer der benachbarten Ionischen Inseln gleichgesetzt wird, wurde in der Region von Trapani angenommen, weiß Wikipedia. Für Cardillo sind solche Mythen und Fakten ein Beweis, dass auch die Geschichte nicht mehr als ein Rendering ist. Zu viele Geschehnisse wurden aus den Büchern radiert: Realität existiert nicht. Und so lebt und arbeitet der Architekt in seiner eigenen Wirklichkeit. Die möglichen Bilder dazu baut er selbst.
Schon bevor er Mitte der Neunziger in Palermo studierte, programmierte Antonino Cardillo Computerspiele und entdeckte die Architektur als eine konstruierte Realität. Später in Rom fertigte er dann Visualisierungen für weniger versierte Architekten an und verdiente damit sein Geld (er schrieb keine Doktorarbeiten, wie unter anderem im Spiegel-Artikel behauptet wird). Wenn Antonino Cardillo sich an diese Zeit erinnert, ziehen dunkle Schatten über sein Gesicht. Er war damals einer der wenigen, die so gute Darstellungen anfertigen konnten, aber er habe es nicht gemocht, die Entwürfe von anderen zu visualisieren. „Ich wollte mich auf meine Architektur konzentrieren“, erzählt er.
— Und die Computerspiele?
Ja, als ich jung war, habe ich viel und intensiv gespielt. Damals waren die Grafiken noch von geringer Qualität, die Geschichten der Spiele aber umso stärker. Heute ist es genau andersherum: Je realistischer die Spielegrafiken geworden sind, desto mehr haben die Geschichten verloren. Das interessiert mich nicht mehr.
Cardillo ist ein Perfektionist. „Ein Rendering sieht nicht aus wie ein Foto: Es bleibt immer offensichtlich ein Rendering“, sagt er. „Ich habe meine Bilder immer als Rendering gesehen.“ Der erste Kontakt zur Presse kam über World Architecture News. Das war 2007. Fünf Jahre später schrieb Susanne Beyer den viel zitierten Artikel im Spiegel, im Juli 2012. Dieser basierte auf einem anderen Artikel, den der Architekturkritiker Peter Reischer zuvor im österreichischen Falter publiziert hatte („Schöner klonen“, Falter, 9. Mai 2012): „Der Architekt Antonino Cardillo baut nur im Internet. Mit seinen Häuserfakes narrt er die internationale Presse“, beginnt Reischer seine Abrechnung, die ohne Autorisierung des Architekten erfolgte. „Peter Reischer ist immer noch so wütend auf mich“, lacht Cardillo, der sich keiner Schuld bewusst ist.
Ehrlich, ich erinnere mich nicht mehr so gut, es ist alles lange her. Und für mich spielt es auch keine Rolle.
— Wo wurden die imaginären Häuser denn zuerst publiziert?
The Cool Hunter veröffentlichte einen Artikel über das Ellipse House, der den Eindruck erzeugte, es wäre gebaut. Das war 2007.
Damals waren die Monitore noch schlechter, vielleicht sahen die Renderings vor zehn Jahren schon aus wie Fotos? Das Fatale war: Viele andere Magazine haben von dem ersten Artikel einfach abgeschrieben. Als Wallpaper mich kontaktierte, weil sie das Ellipse House für eine Publikation fotografieren lassen wollten, habe ich sie aufgeklärt, dass es das Gebäude nicht gibt. Also haben sie es nicht publiziert.
— Was passierte dann?
Ab einem gewissen Punkt habe ich mich über den Verlauf dieser Geschichte nur noch amüsiert: Es blieb mir auch nichts anderes übrig! Das hat viele wütend gemacht, Peter Reischer zum Beispiel. Unglaublich! Ich hatte ab einem gewissen Punkt entschieden, niemandem mehr zu antworten und mich komplett rauszuziehen. Es war für mich nicht möglich, in dieser Geschichte noch zu agieren. Es gab so viele verschiedene Ebenen der Manipulation!
— Immerhin fand das alles hauptsächlich in deutschsprachigen Medien statt ...
Ehrlich gesagt war die Debatte in Italien noch viel schlimmer als in Deutschland – La Stampa schrieb über mich eine ganze Seite. Weil die italienischen Journalisten aber die deutschen Artikel übersetzt und damit gearbeitet haben, sind eine Menge neuer Missverständnisse und Lügen entstanden. Es war eine Verwirrung von Verwirrungen.
Viele Artikel sind für Cardillo manipuliert, weil die meisten aus dem Falter oder aus dem Spiegel abgeschrieben haben. „Die Wirklichkeit ist sehr komplex, es ist schwer, alles zusammenzubringen und zu verstehen. Heute ignorieren viele Magazine meine Arbeit, vor allem Wallpaper.“ Was ist real, was ist Fake? Eine philosophische Frage. Illusionen sind je nach Wunsch und Vorstellungskraft stärker als die Wirklichkeit. Architektur manipuliert den Menschen. Manipulation ist menschlich. Und nicht nur Architekten, auch Medien müssen sich verkaufen.
Wenn Cardillo heute über seine imaginären Häuser spricht, wird er nachdenklich, wägt seine Worte genau ab – er ist auf der Hut. Dass ihm heute viele nicht mehr glauben, den Sizilianer einen Lügner und Betrüger nennen, trifft ihn. Auch die italienische Presse und viele Architekten aus Palermo oder Rom empörten sich über Cardillo und seine sieben Häuser: Häuser, die so viele begeistert haben, dabei waren sie nicht gebaut.
„Meine Wahrheit ist nicht die Wahrheit: Das ist das Problem“, sagt Antonino Cardillo. „Es hat mich frustriert, dass ich meine Architektur nicht kommunizieren konnte, wenn sie nicht tatsächlich gebaut war.“ Um Bauherren zu erreichen, fehlten dem jungen Architekten die nötigen Referenzen – eine Frage der Akquise. „Ich hatte keine andere Möglichkeit“, sagt er. Auch Mies van der Rohe und Le Corbusier haben hauptsächlich geschrieben und weniger gebaut. Es gibt keine Realität. Auch sei die griechische Kultur laut Cardillo ein Verbrechen.
— Warum?
Die Klassik ist nicht griechisch! Und die Skulpturen der Klassik waren auch nicht weiß! Im frühen 19. Jahrhundert entdeckte man, dass die Elemente und der Stuck der originalen griechischen Tempel farbig gewesen sein müssen. Der Klassizismus war also nicht weiß – im Gegenteil, er war bunt bemalt. In einer befremdlichen Art und Weise war er vielleicht sogar zu bunt.“
— Welche Rolle spielt das?
Wenn man bedenkt, dass Bewegungen der Moderne, wie das Bauhaus, diese Idee der puren Klassik aufgegriffen haben, sogar Le Corbusier, erkennt man, dass diese Interpretation der reinweißen Klassik eine singuläre Projektion der Vergangenheit ist. Für mich hat dieser Aspekt eine große Bedeutung, denn tatsächlich ist diese Attitüde der Reinheit nicht eindeutig. Es ist schon seltsam, dass auch heute noch der Minimalismus und andere Vertreter existieren, die diese Idee der reinen Architektur unterstützen.
— Aber das Bauhaus und Le Corbusier waren auch bunt – vielleicht sogar farbiger als heute.
Ja, vielleicht. Aber es geht mehr um ein Statement. Was Le Corbusier in seinen Schriften gesagt hat, unterscheidet sich enorm von seinen gebauten Projekten. Er zelebrierte die Idee von Weiß als etwas Neuem, auf eine positive Art. Was seltsam ist: Das Maison La Roche war nicht weiß, sondern beige. Aber als die Fondation Le Corbusier das Gebäude in den Siebzigerjahren sanierte, haben sie die Fassade weiß gestrichen. Weil Le Corbusier in seinen Büchern Weiß zelebrierte!
— Wenn es keine Realität gibt, an was glaubst du?
Ich glaube daran, dass wir Menschen nichts kontrollieren können. Es ist eine Illusion, wir zerstören alles durch die Annahme, wir könnten es kontrollieren und beeinflussen. Das Scheitern der Moderne basiert also auf der Arroganz, der Mensch könne diese irrationalen Kräfte beseitigen. Aber das ist nicht möglich!
— Welche irrationalen Kräfte meinst du?
Ich glaube an die Akzeptanz irrationaler Kräfte, dazu zählt auch die Liebe. Deswegen interessiert mich das Werk von Richard Wagner: aufgrund des Paradigmas von Macht und Liebe. Die Liebe scheitert, weil man sich für die Macht entscheidet. Das ist auch das Paradigma der Moderne: Liebe ist eine irrationale Kraft. Der White Cube ist eine Konsequenz von Macht.
— Und was ist mit der Macht der Liebe?
Das ist nur ein Lied! (lacht) Wer Macht hat, kann andere Menschen beeinflussen. Wer liebt, zerstört sich selbst. Aus psychologischer Sicht ist die Liebe eine sehr gefährliche Krankheit. Liebe ist nur eine Illusion. Ebenso wie die Architektur: Nur eine Illusion! Aber gleichzeitig ist die Liebe realer als die Wirklichkeit.
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