Roboter, Cyborgs, Urhütten
Die Architekturbiennale 2021 in Venedig

How will we live together? Kurator Hashim Sarkis wirft mit der 17. Architekturbiennale in Venedig einen Anker ins Morgen. Die Zukunft wird als Labor für neue Formen der Gemeinschaft und der Interaktion verstanden. Düsternis und Hoffnung gehen in der Lagune Hand in Hand. Ein Rundgang durch die Hauptausstellung in den Giardini und im Arsenale.
Venedig ist zurück im Biennale-Modus. Und doch ist alles anders. Von den wuseligen Touristenströmen keine Spur am vergangenen Mittwoch. Die Vaporetti waren angenehm leer, bei der Ankunft in den Giardini kaum Besucher auszumachen. Den Großteil der Anwesenden stellte eine Gruppe Carabinieri, die stolz in Uniform über die Sandwege schlenderten und sichtlich diesen Moment der Ruhe genossen. Schon am Donnerstag wurde es voller. Am Arsenale-Eingang bildeten sich erste Schlangen. Vielleicht hat es geholfen, dass am vorherigen Sonntag die Quarantäne-Pflicht aufgehoben wurde und sich einige kurzentschlossen doch noch auf den Weg gemacht haben.
Ausgeschlafen in den Tag
Die größte Veränderung betraf den Abend: keine Palazzo-Parties, keine Empfänge, die Canal-Grande-Terrasse vom Hotel Bauer ausgestorben. Und doch: Es gab Dinners – und nicht nur draußen, wie es die Gesetzeslage forderte. In einigen Palazzi wurde auch getanzt, ganz inoffiziell natürlich, ohne großes DJ-Set und Licht, ohne Kameras und ohne Selfies, dafür mit hoher Diskretion. Zuvor wurde ein Schnelltest gemacht, pünktlich zur Sperrstunde um 23 Uhr mussten alle das Gebäude verlassen. Venedig light, kein Kater am nächsten Morgen. Alle kamen ausgeschlafen ins Arsenale und in die Giardini. Sogar das Wetter spielte mit. Statt des angekündigten Dauerregens ließ sich die Sonne blicken und tauchte die Lagunen-Stadt in ihr magisches Licht.
In die Zukunft geschaut
„Wie werden wir zusammen leben?“, fragt Kurator Hashim Sarkis mit dieser Biennale. Sie soll die Gedanken wieder anregen. Weg von der drögen Aneinanderreihung von Architekturmodellen wie bei der vergangenen 16. Biennale, die von Yvonne Farrell und Shelley McNamara, den beiden Gründerinnen des Büros Grafton, geleitet wurde. Auch wenn Sarkis selbst als Architekt praktiziert, wird der gebürtige Libanese vor allem mit seiner Rolle als Leiter der MIT-Architekturfakultät assoziiert. Die Biennale erhält damit eine Perspektive, die sich vom reinen Machen emanzipiert. Fragen zu stellen ist plötzlich wichtiger als Antworten zu geben. Zur Analyse der Gegenwart wird in die Zukunft geschaut.
Mad Max trifft Dschungelbuch
Vor allem im Arsenale wird der Schirm weit aufgespannt. Man sieht Roboter, die Gebäude und Landschaften bauen. Menschen haben sich in Cyborgs verwandelt. In wassergefüllten Glaszylindern werden alienartige Wesen gezüchtet. Die Welt befindet sich in einem postapokalyptischen Zustand. Und doch lassen sich die Menschen nicht unterkriegen. Sie veranstalten ausgelassene Dinner-Runden zusammen mit anderen Hybridwesen an großen Eichentischen, wie in der Arbeit Refuge for Resurgence von Anab Jain, Jon Ardern und Sebastian Tiew vom Londoner Designstudio Superflux. Die Teller und Bestecke sind aus Naturalien und Artefakten zusammengebaut. Mad Max trifft Dschungelbuch.
Die Architektur beackert viele Baustellen: von der Überwindung menschlicher Isolation zum Überschreiten sozialer, kultureller und politischer Grenzen bis hin zu Fragen des Klimaschutzes und der Ökonomie. „Der Einfluss der Digitalisierung auf die Wirtschaft und die Zukunft der Arbeit hat zu einer neuen Aufteilung von Landnutzung im Maßstab der Regionen, Städte und Nachbarschaften geführt. Neue Industrien und alternative Agrarwirtschaften dringen in die Städte ein“, erklärt Hashim Sarkis. Bit.Bio.Bot von Claudia Pasquero und Marco Poletto von ecoLogicStudio ist eine Zuchtstation des Spirulina-Bakteriums, das verschmutzte Partikel aus der Luft filtert und mittels Photosynthese in nahrhafte Speisen übersetzt.
Natur wird zum Baumeister
Architekten entwerfen keine baulichen Hüllen, sondern Prozesse. Dazu müssen sie ihre Komfortzone verlassen und in alle Richtungen denken. Mitunter müssen sie auch in andere Professionen wechseln und das Bauen beispielsweise aus der Politik heraus verändern (lesen Sie hierzu auch den BauNetz-Beitrag über den deutschen Pavillon). Häuser werden nicht nur gebaut, sie wachsen. Neue Materialien für ein Zeitalter nach Beton werden erkundet, von Gurkenfasern bis hin zu Pilzen. Recycling von Kunststoff und anderen Materialien spielt eine wichtige Rolle. Auch Schutzkleidung für Astronauten oder das Leben auf der Erde sind zu sehen. Architektur beginnt auf der Haut. Im Falle biologischer Wachstumsprozesse bereits darunter. Die Grenzen zwischen den Disziplinen verschwimmen.
Menschen und Mikroben
Das Projekt Future Assembly, initiiert von Olafur Eliasson, Sebastian Behmann (Studio Other Spaces), Paola Antonelli und anderen, setzt sich für eine erweiterte Version der Vereinten Nationen ein, die nicht nur die Rechte von Staaten und ihren Bewohnern vertritt, sondern „more-than-human“ agiert – sprich die Gesamtheit der lebenden und nicht lebenden Natur mit einbezieht. Alive: A New Spatial Contract for Multispecies Architecture von David Benjamin, Gründer des New Yorker Studios The Living, wird als Prototyp für artenübergreifendes Bauen verstanden, das Menschen und Mikroben gleichermaßen ein Zuhause bietet. Andere Projekte gestalten die Welt von morgen aus den heutigen Ressourcen heraus. Zwischen- und Nachnutzungen wie der Umbau des Berliner Haus der Statistik von Raumlabor sind zu sehen. Das Kollektiv Cohabitation Strategies präsentiert das Manifest How to Begin Again: An Initiation Towards Unitary Urbanism – eine vierstufige Handlungsanweisung, den Kapitalismus im Städtebau zu überwinden und dafür soziale und umwelttechnische Fragen zu lösen.
Vernebelte Daten
Es ist eine Biennale der Spekulation, die Raum zur Imagination lässt. Gebäude werden nicht auf starre Kuben und öde Fassaden reduziert wie bei der letzten Biennale. Das ist gut. Doch allzu oft wirkt der Ausflug in die Wissenschaft wie eine Übersprungshandlung. Simple Datentabellen werden im Hauptraum des Giardini-Pavillons zu riesigen Halbkugeln aufgeblasen, die wie Relikte eines zerstörten Todessterns aus Krieg der Sterne anmuten (Studio Plan B). Daneben werden Daten in mäandernde Landschaften in Kindergartenfarben übersetzt (Studio TVK). Heiße Luft zu produzieren, fühlt sich plötzlich erstaunlich profund an. Man formt eine Wolke aus Daten, die sich für den Moment nur schwer überprüfen lässt, und zieht sich damit aus der Affäre. Die Wissenschaft als Joker im großen Archi-Poker. Und so bleibt diese Biennale oft im Vagen. Vor allem dort, wo es sich gelohnt hätte, zumindest ein Stück weit konkret zu werden.
Jenseits der Pandemie
Und noch etwas fällt auf: Es wird erstaunlich wenig über Räume debattiert. Welche Qualitäten sollen sie besitzen? Inwieweit verändern sich die Grundrisse? Wie steht es mit generationenübergreifendem Wohnen, sicher „dem" Schlüsselthema der überalterten Industriegesellschaften? Die innere Logik von Gebäuden, der Nukleus des menschlichen Zusammenseins, wird entweder ausgespart oder auf archaische Weise gelöst. Vom silber schimmernden Iglu von Kei Kailoh Architects, einem zylindrischen Holzbau von Alejandro Aravena/Elemental oder organischen Pavillons von Zaha Hadid Architects: Wir sehen eine Wiederauflage der Urhütte, wo alle in einem großen Raum zusammenkommen. Gemeinschaft gleich Gemeinschaftsraum? Ist es wirklich so einfach?
Auch Corona hat in den Ausstellungsprogrammen keine Spuren hinterlassen – weder in der Hauptausstellung in den Giardini und im Arsenale noch in den Länderpavillons. Das mag einerseits verständlich sein, weil alles für den ursprünglichen Termin im Mai 2020 geplant wurde. Doch die Frage, wie wir in Räumen weiterhin zusammentreffen werden, hat sich durch die Pandemie grundlegend verändert. Es ist schade, dass an dieser Stelle nicht nachjustiert wurde. Denn so wirkt diese Biennale, obgleich sie beständig nach dem Morgen greift, mitunter seltsam aus der Zeit gefallen.
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