Mario Trimarchi
Der Mailänder Gestalter im Interview über Schattenliebe, Ungleichgewichte und Kruzifixe.
Mario Trimarchi springt zwischen den Maßstäben. Mit seinem Büro Fragile nimmt der Mailänder Gestalter den Alltag in ungewöhnlicher Bandbreite ins Visier. Er entwirft Schalen und Espressomaschinen für Alessi, Leuchten für Artemide und konzipiert die Firmenauftritte der italienischen Post, der Großbank Banca Intesa oder der Mailänder Müllabfuhr. Ein Gespräch über seine Liebe zu Schatten, den Kampf gegen die Symmetrie und zeitreisende Kruzifixe.
Signore Trimarchi, Sie sind Architekt, Produktdesigner, Grafikdesigner und Gestalter von Informationssystemen in einer Person. Wie haben Sie sich dieses breite Spektrum angeeignet?
Es hat sich einfach ergeben (lacht). Von Haus aus bin ich eigentlich Architekt. In den neunziger Jahren habe ich erst als Assistent von Andrea Branzi an der Domus Academy Design unterrichtet. Dann ging ich zu Olivetti und arbeitete mit Ettore Sottsass und Mario Bellini zusammen. Schon zu diesem Zeitpunkt gab es erste Anfragen für Unternehmenskommunikation. Doch der Durchbruch kam 1999…
… als Sie den Wettbewerb für die Corporate Identity der italienische Post gewonnen haben.
Ich gründete daraufhin mein Designbüro Fragile, dem später Frida Doveil als Partnerin beitrat. Neben Firmenkommunikation entwerfen wir Architektur- und Interieurprojekte, ebenso Messestände und Ausstellungsdesign wie für den Hauptpavillon der Architekturbiennale 2006 in Venedig. Vor sieben Jahren habe ich für Alessi meine ersten Produkte gestaltet.
Den Designprozess können Sie von A bis Z verfolgen.
Ja, ich zeichne ein Produkt, gebe ihm einen Namen, entwerfe die Verpackung, gestalte die Anzeigen, suche die Fotos für die Kataloge aus und leite die Kommunikation des Produktes. Spannend ist nicht nur der Sprung zwischen den Maßstäben, sondern alles aus einem Guss zu liefern. Gerade die italienischen Firmen sind sehr gut darin, diese Bereiche zusammenzufügen. Wenn sie dir vertrauen, geben sie dir sehr viel Spielraum. Darum ist es besser, sich auf wenige Firmen zu konzentrieren, doch dafür die Zusammenarbeit zu intensivieren. Fast jeder unserer Kunden hat später nach Dingen gefragt, die anfangs gar nicht vereinbart waren. Von daher ist eine Expertise in anderen Disziplinen sehr hilfreich.
Wie gehen Sie an ein Projekt heran?
Zunächst fertige ich erst einmal wahnsinnig viele Skizzen an. Meistens habe ich weder ein Briefing oder ein konkretes Projekt im Sinn. All meine Produktentwürfe sind bisher so entstanden. Wenn ich zeichne, erzeuge ich immer Räumlichkeit. Und das funktioniert nur durch den Einsatz von Schatten. Und so entstehen auf dem Papier schließlich dreidimensionale Objekte. Bei der Vasenserie La stanza dello Scirocco habe ich versucht, den Wind zu zeichnen. Als ich mit meinen Zeichnungen verstehen wollte, wie man eine Skulptur erzeugt, ging daraus die Espressomaschine Ossidiana hervor. Und mit meinen Architekturskizzen landete ich später bei der Backformenserie Kugelhof e Savarin.
Es war also der Zufall, der Sie dorthin geführt hat?
Eher der offene Prozess. Es ist spannend, sich Produkten nicht über das Design, sondern über Wolken, Wind, Architektur oder Skulptur anzunähern. Ich glaube, dass darin die einzige Möglichkeit liegt, um heute noch neue Objekte zu entwerfen. Man geht unvoreingenommener an eine Sache heran.
Ihre Produktentwürfe verbindet nicht nur eine betont skulpturale Erscheinung. Auch Asymmetrie spielt eine entscheidende Rolle.
Ich nenne das „die neue Normalität“: Dinge, die nicht symmetrisch sind und immer ein wenig instabil erscheinen. Ich glaube sehr an die Instabilität, weil sich die Dinge nicht auf Anhieb erschließen lassen. Sie scheinen in Bewegung zu sein, als wollten sie vor etwas fliehen. Darum versuche ich immer, die Geometrie ein wenig aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Sollen die Objekte auf diese Weise weniger industriell erscheinen?
Vielleicht. Ich denke, dass das Wohnen heute zu gleichförmig geworden ist. Wir können überall dasselbe kaufen. Alles sieht vollkommen identisch aus. Dasselbe gilt für die Gebrauchsgüter, die fast durchgängig symmetrisch aufgebaut sind. Ein gutes Beispiel ist die klassische Bialetti-Espressomaschine, deren acht Seiten vollkommen identisch sind. Ich wollte damit brechen und einen anderen Weg einschlagen. Die fünf Seiten meiner Ossidiana-Maschine sind ganz verschieden. Das Ergebnis ist ein ursprüngliches, beinahe primitives Objekt, als hätten Steinzeitmenschen eine Skulptur aus Felsen hauen wollen. Dennoch handelt es sich um ein funktionales Produkt, das wir tagtäglich benutzen können. Ergonomie 2.0 ist das für mich.
Für Aufsehen haben Sie 2009 mit Ihrer Schalenserie La stanza dello Scirocco gesorgt. Deren aneinandergefügten Metallplättchen können mit den Händen verbogen werden, als hätte der Wind einen Haufen Spielkarten aufgewirbelt. Das Faszinierende an diesem Entwurf ist vor allem sein Schattenwurf.
Ich stamme aus Sizilien. Schatten sind enorm wichtig für uns. Wenn es an einem Ort so viel Sonnenlicht gibt, suchen Sie automatisch nach einem schattigen Plätzchen. Interessanterweise ist der Schatten oft schöner als das Objekt, das ihn wirft (lacht). Aus diesem Grund fotografiere ich Gegenstände immer nur bei Tageslicht, weil die Schatten nicht schwarz, sondern farbig sind. Mit diesen Nuancen zu arbeiten ist fundamental. Die Schalen aus der La-stanza-dello-Scirocco-Serie werfen einen Schatten, der sich über die Tischoberfläche und die auf ihr befindlichen Objekte legt. Das öffnet einen spannenden Dialog, weil diese Gegenstände miteinander zu sprechen beginnen. Welche Persönlichkeit, Identität und Seele haben die Dinge? Wie verhalten sie sich untereinander? Das sind spannende Fragen, denen ich auch in den anderen Maßstäben nachgehe.
Sie meinen mit Ihren Corporate-Identity-Entwürfen?
Alle Logos und Markenauftritte, die wir entwickelt haben, funktionieren ohne Schrift. Natürlich ist die Schrift auch ein wichtiger Teil. Doch der Zugang muss auf intuitive oder sinnbildliche Weise erfolgen. Darum erzählt das Erscheinungsbild der italienischen Post zum Beispiel von Italien. Das Unternehmen hat 170.000 Mitarbeiter und 15.000 Filialen. Nur die Carabineri sind gleich groß (lacht). Genau das war schließlich unserer Ansatz: Wir wollten keine Identität für die Post entwickeln, sondern eine Identität für das Land.
Und wie haben Sie dies erreicht?
Wir haben sechs Landschaften ausgewählt – von den Alpen über die Toskana bis Sizilien. Egal, welche Filiale man betritt: Das Logo ist nie gleich und doch stets erkennbar. Es zeigt nur verschiedene Seiten von sich. Die Schwierigkeit bestand für uns darin, dass das Logo auch auf Lieferwagen, Helmen, Fahrrädern und dergleichen funktioniert. Heute freut es mich, wenn ich durch die Stadt laufe und ständig einem unserer Entwürfe begegne. Wir haben ja auch das Logo der Banca Intesa entwickelt, der größten Bank Italiens. Und in Mailand haben wir für die Müllabfuhr eine neue Grafik entwickelt, die die Bürger stärker für Recycling sensibilisieren soll.
Ein ungewöhnliches Designthema haben Sie 2011 vorgestellt: Das Gebetskreuz Croce für Alessi, das sich leicht aus der Wand nach vorne neigt. Was hat es mit diesem Entwurf auf sich?
Normalerweise ist das Kreuz immer fest an der Wand befestigt. Es soll dran erinnern, was Christus an einem Freitag widerfahren ist. Ich habe das Kreuz aus seiner starren Position befreit, um es in der Donnerstagnacht zu zeigen,
Also noch vor der Kreuzigung?
Genau. Ich wollte sagen, dass uns immer noch ein kleiner Moment bleibt, in dem wir die Welt verändern können. Wir haben noch fünf Minuten, in denen alles möglich ist. Darum neigt sich das Kreuz aus der Wand heraus. Dahinter liegt ein zweites Kreuz, das wie sein Schatten an der Wand anliegt und zeigt, wo sich das Kreuz in fünf Minuten befinden wird. Das Spannende ist, dass das hervorstehende Kreuz noch ein drittes Kreuz als Schatten wirft. Das ist das Mysterium, weil seine Erscheinung völlig unvorhersehbar ist. Sie sehen schon: Schatten sind fundamental für mich. Wo keine Schatten sind, ist nichts.
Vielen Dank für das Gespräch.