Menschen

Neri & Hu

Das Shanghaier Gestalterpaar im Gespräch

von Norman Kietzmann , 18.04.2017

Lyndon Neri & Rossana Hu denken über Grenzen hinweg. Die beiden Gründer des Shanghaier Architektur- und Designbüros Neri & Hu sind im privaten wie im beruflichen Leben ein Paar. Er skizziert und sie kritisiert: Mit dieser Aufgabenteilung projektiert das Duo seit 2004 nicht nur Hotels, Restaurants, Apartments und Bürogebäude wie aktuell den neuen Firmensitz der Kölner Kreativagentur Meiré&Meiré. Ebenso entwerfen Neri&Hu Möbel, Leuchten und Objekte für Firmen wie Classicon, Offecct, Artemide, Stellar Works oder Poltrona Frau. Wahre Experten also, wenn es um die Frage nach der Verschränkung von Design und Architektur geht. 

Lyndon Neri und Rossana Hu, Sie gehören zu den derzeit gefragtesten Gestaltern und haben auf der Mailänder Möbelmesse 2017 gleich ein ganzes Dutzend an Neuheiten aus dem Ärmel geschüttelt. Worauf kommt es im Design heute an? Lyndon Neri: Wohnraum ist längst nicht nur in Städten wie London und New York fast unbezahlbar geworden, sondern ebenso in vielen asiatischen Metropolen. Mit unserer Arbeit wollen wir uns dem nicht verschließen, sondern kompakte und leicht zu transportierende Möbel entwerfen. Darum ist es wichtig, die gängigen Typologien neu zu überdenken und Dinge zu kreieren, die mehrere Bedürfnisse auf einmal erfüllen. Wir wollen uns damit an eine urbane Generation richten, die keinen Raum verschwenden und dennoch beim Komfort keine Abstriche machen möchte.

Können Sie dafür ein Beispiel geben? Rossana Hu: Für Agape haben wir die Badewanne Immersion vorgestellt, die in ihrem Grundriss kleiner, doch dafür sehr viel höher ist. Wir haben eine hölzerne Ablage eingefügt, auf der man sitzen kann wie auf einem normalen Stuhl. Nimmt man die Ablage heraus, versinkt man komplett im Wasser. Diese Wanne lässt sich in Apartments einbauen, in denen normalerweise gar kein Platz für sie wäre. Natürlich kann man eine Wanne nicht zusammenfalten und im Koffer transportieren. Dennoch macht es die Form sehr viel leichter, dieses Design-Investment beim nächsten Umzug einfach mitzunehmen. 

Das Prinzip der Kompaktheit haben Sie ebenso bei Ihrer Möbelkollektion Ren für Poltrona Frau umgesetzt – einem Hersteller luxuriöser, hochwertiger Polstermöbel, der normalerweise eher fürs Großformat bekannt ist. Liegt darin nicht ein Widerspruch? LN: Beweglichkeit tendiert sehr häufig dazu, die Dinge billig aussehen zu lassen. Wenn etwas leicht und flexibel ist, halten es viele Menschen nicht für hochwertig. Genau das wollten wir verändern. Wir haben die Kollektion im vergangenen Jahr mit Garderoben, Stummen Dienern und Zeitschriftenablagen begonnen und uns nun in Richtung Sesseln und Sofas bewegt, die wir ebenfalls in ihren Dimensionen geschrumpft haben. 

RH: Alle Dinge haben einen Griff, sodass man sie von einem Raum in den nächsten bewegen kann. Man muss sich keine Sorgen machen, sie in den Aufzug zu bekommen oder durch den Hauseingang. Wenn kleine Objekte mit hochwertigen Details und handwerklichen Prozessen verbunden werden, wirken sie nicht nur luxuriöser, sondern auch relevanter für den urbanen Lebensstil. Wertigkeit ist keine Frage der Größe mehr. 

Auffällig sind die abgerundeten Konturen der Ablageböden und tragenden Strukturen. Was hat es damit auf sich? LN: Wir beschäftigen uns sehr stark mit der Logik der Struktur, die die Möbel zusammenhält. In diesem Falle bestimmen die runden Kanten den Charakter der gesamten Kollektion. Ich glaube, dass darin auch ein Gegenpol zu unseren architektonischen Projekten steckt, die sehr kubisch sind. Wenn man von der Architektur zum Design übergeht, ist es wichtig, keinesfalls nur einen Sprung in den Maßstäben zu vollziehen. Gebäude können kastenförmig sein. Doch für Interieurs und Möbel braucht man eine andere Denkart. Man muss bei den Formen sensibler und empfindsamer sein, weil sie auf direkte Weise mit dem Menschen interagieren. Rechte Winkel und klare Kanten können hierbei schnell zu schroff wirken, während sie im Maßstab eines Gebäudes genau richtig sind. 

Architektur, Innenarchitektur und Produktdesign planen Sie aus einer Hand. Inwieweit greifen Ihre Erfahrungen hierbei ineinander? LN: Uns interessieren Möbeln weniger als einzelne, ikonische Objekte. Sie sind für uns immer ein Teil des Raumes und damit auch ein Teil einer Erfahrung. Jedes Sofa hat eine Rückseite, die in die Wirkung eines Ensembles eingebunden werden muss. Es ist wichtig, beim Entwerfen alles zusammen zu denken und nicht jedes Objekt für sich alleine zu betrachten. Manchmal hat ein Stuhl nicht nur mit Form und Funktion zu tun, sondern auch mit der Geschichte. Für Stellar Works haben wir den Mandarin Chair entworfen, bei dem es um die heutige Wahrnehmung eines klassischen, chinesischen Stuhles geht. Und bei der Leuchte Yanzi für Artemide haben wir uns Gedanken gemacht über das Zusammenspiel aus Natürlichkeit und Künstlichkeit. Wir denken an dieser Stelle nicht nostalgisch an die Vergangenheit. Doch wir sind davon überzeugt, dass sie wichtig ist, um uns weiter nach vorne zu bewegen.
Es geht um Vertrautheit? RH: Ja, viele Leute fühlen den Verlust des menschlichen Maßstabs in unserer ultra hochentwickelten, digitalen Welt. Die spannende Frage ist, wie wir in zehn Jahren leben werden: In einer Welt, in der nichts mehr erkennbar ist? Für uns ist es wichtig, heutige Technologien zu verwenden. Doch ein Teil der Vertrautheit darf nicht verloren gehen. Ob in der Materialität, in der Taktilität oder in etwas so Einfachem wie Licht. Vielleicht schnipst man einfach nur mit den Fingern und eine Leuchte schaltet sich ein oder aus oder sie verändert ihre Intensität. Aber dieser technologische Sprung betrifft nur die Lichtquelle. Als Designer bestimmen wir die Erscheinung der Leuchte und damit auch die Wahrnehmung des Raumes. Darum ist es wichtig, die Geschichte nicht komplett aus den Augen zu verlieren und stattdessen einen poetischen Betrachtungswinkel einzubringen, der die Leute vielleicht sogar zum Nachdenken bringt.

LN: Die Lantern Light für Classicon zum Beispiel greift die Idee einer Laterne auf, die Menschen vor der Elektrizität verwendet haben. Indem wir zu dieser sehr einfachen, primitiven Form zurückkehren, denkt vielleicht jemand: „Ich sollte besser alle Lichter ausschalten, wenn ich aus dem Haus gehen, anstatt alles als selbstverständlich zu sehen.“ Das wäre ein schönes Ergebnis. 

Auch Handwerk ist aus demselben Grund wieder ein so wichtiges Thema geworden, obwohl niemand darüber vor zehn Jahren gesprochen hat. RH: Ich denke, es hat mit dem Gefühl zu tun, in all der digitalen Technologie ein wenig verloren zu sein. Die Leute machen sich Sorgen und sehnen sich daher nach dem Handwerk zurück, das seit jeher eine humanistische Qualität hatte. Für uns ist Handwerk auch ein wichtiges Thema. Doch wie werden wir koexistieren mit der Realität, die noch kommen wird? In naher Zukunft werden uns einige Menschen im Alltag begegnen, die keine echten Menschen mehr sind. Wir werden nicht mehr erkennen können, wer ein Roboter ist und wer nicht. Daher ist es wichtig, dass sich die Menschen von der Technik absetzen.

Sie beide haben für mehrere Jahre in den USA gelebt. Welche Rolle spielen diese Erfahrungen für Sie? LN: Ich bin dort nach meinem Studium hingezogen und Rossana, als sie zwölf Jahre alt war. Wir sind also definitiv eher asiatisch zivilisiert: ein wenig schüchtern und zurückhaltend. Wenn jemand Älteres am Tisch sitzt, trauen wir uns kaum, etwas zu sagen. Das sind natürlich Stereotypen, doch sie stimmen in vielen Punkten. Im Westen haben wir gelernt, konzeptioneller und nicht so wortwörtlich zu denken. Das hilft uns bis heute bei unserer Arbeit, mit der wir beide Herangehensweisen verbinden wollen. 

RH: Ein anderer Punkt ist, dass sich die Welt, in der wir leben, verändert. Der Westen wird immer östlicher und der Osten wird immer westlicher. Ich glaube, dass wir diese Lücken füllen, weil wir Projekte in beiden Hemisphären betreuen. Im Osten bringen wir das ein, was wir vom Westen lernen und vice versa. Dennoch merken wir, dass diese Lücken immer kleiner werden. Die Kulturen verschmelzen immer stärker miteinander. Genau wie bei uns zuhause in Shanghai. 

Heute leben und arbeiten Sie beide in Shanghai – Ihre Kunden betreuen Sie jedoch rund um den Globus. Worin unterscheidet sich die Herangehensweise in Asien und in Europa? LN: Europäische Kunden sowie stark vom Westen beeinflusste asiatische Kunden suchen das Sofortige, den Wow-Effekt. Sie wollen das magische Ding sehen, mit dem man ein Zeichen setzen möchte. Asiatischen Kunden geht es eher darum, zu einer anderen Erfahrung zu gelangen. Bei den Gebäuden von Tadao Ando zum Beispiel sind die Fenster manchmal sehr niedrig angeordnet, damit man sich hinsetzt, um die Landschaft zu betrachten. Wenn man hingegen stehen bleibt, kann man sie nicht richtig sehen. Es geht um diese Momente. Auch wir kümmern uns nie um das Sofortige, sondern legen den Fokus auf die leisen und kleinen Dinge.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mehr zum Salone del Mobile 2017 lesen Sie in unserem Special.

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