Nicht heiß, nicht kalt
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Ein eindeutiges Unentschieden – so lautet das Ergebnis der aufwändigen Sanierung der Münchner Gastronomie-Institution „Café Reitschule“. Die neuen Räume wollen alles sein und sind am Ende nichts richtig: Das große Lokal am Englischen Garten soll zugleich als Restaurant, Kaffeehaus, Bar, Festsaal und Salon funktionieren. Die Atmosphäre schwankt zwischen schummrig-warm und nobel-unterkühlt, ohne je ganz stimmig zu wirken. Zu laut ist es allemal. Und so ist ein Schulterzucken vielleicht die beste Antwort auf die Frage, ob der Umbau gelungen ist.
Für die Münchner hat sie eine gefühlte halbe Ewigkeit gedauert, die Sanierung des traditionsreichen „Café Reitschule“ – und ganz reibungslos verlief sie wohl auch nicht, denn es gab einen behördlich verfügten Baustopp. Allerdings ist das klassizistische Gebäude in der Königinstraße in Schwabing von innen jetzt vollkommen neu eingerichtet; am äußeren Erscheinungsbild war schon aus Denkmalschutzgründen wenig zu ändern. Bereits seit 1927 existiert das Lokal mit der optimalen Lage genau zwischen Park und Stadt. Und nach wie vor trägt es auch seinen Namen zu Recht: Große Fenster geben den Blick frei in die Halle der angrenzenden Universitäts-Reitschule. Die Gäste können die Pferde bei der Arbeit bewundern und über die Fähigkeiten der Reiter fachsimpeln.
Gastronomie-Typologien, aufgereiht
Das für den Innenausbau verantwortliche Münchner Architekturbüro Palais Mai bewältigte die schiere Größe des Lokals (861 Quadratmeter), indem es verschiedene Bereiche mit unterschiedlichen Stimmungen konzipierte. Mit der Sanierung vergrößerten die Betreiber die Fläche sogar noch, denn sie ließen die Sanitärräume in den Keller verlegen, um einen zusätzlichen Flügel zu gewinnen. Den neuen Teil nennen sie wegen seiner langgestreckten Form und den großen Fensterflächen „Orangerie“. Er dient als Veranstaltungssaal und trifft im rechten Winkel auf den Hauptteil des Lokals. Der Grundriss des Cafés ähnelt dadurch einem „T“. Im Hauptteil sind die einzelnen Bereiche nebeneinander aufgereiht – sie entsprechen verschiedenen Gastronomie-Typologien. Am Eingang liegen Salon und Kaffeehaus, daran schließt sich eine Bar an, und zuletzt kommt das Restaurant. Um die Bereiche unterschiedlich zu inszenieren, variierten Palais Mai die Farben und die Möblierung. Verbindendes Element aller Teile ist der Fußboden: Über die gesamte Fläche erstreckt sich ein kühler, heller Terrazzoboden, der von grünen Terrazzostreifen akzentuiert wird.
Bekannter Stuhl, neue Aufgabe
Vom Eingang aus gelangen die Gäste linker Hand in den Salon; ein offener Kamin, gedämpfte Beleuchtung und eine niedrige Sitzbank erzeugen hier eine entspannte Atmosphäre. Die Tapete mit Gesichtsmotiven ist nach Entwürfen des 1988 verstorbenen italienischen Illustrators Piero Fornasetti gestaltet. Ins Auge fallen die grauen Stühle aus der 404-Serie von Stefan Diez für Thonet: Um aus dem Esstischstuhl einen Lounge Chair zu machen, hat Diez ihm kurzerhand die Beine gekürzt. Lederpolster sorgen für Komfort beim Zurücklehnen. Allerdings stehen die Sitzgruppen recht dicht, so dass das Gefühl von salonhafter Privatheit nicht aufkommen will. Dem Eingang gegenüber befindet sich eine Reihe von dunklen Nischen mit Tischen und Bänken aus Raucheiche, die die Fenster zur Reithalle rahmen und etwas altbacken wirken, so, als seien sie von der Vor-Vorgängerausstattung übrig geblieben.
Das Zentrum der „Reitschule“
Rechts neben dem Eingang schließt sich der als „Kaffeehaus“ betitelte Bereich an: Hier schlägt die Stimmung um. Ein großer, offener Raum mit viel Tageslicht, in dem sehr helle Farbtöne dominieren, und der mit James Irvines Neuinterpretation von Thonets Stuhlklassiker 214 passend möbliert ist. Die Tische haben eine helle Platte aus Juramarmor. An der Decke hängen schöne, weiße Leuchten, die Lichtdesigner Markus Widmann eigens für das Projekt entwickelte. Die Porzellanplättchen der Schirme produzierte die Porzellanmanufaktur Nymphenburg. Wegen seiner Lage im Café sowie der Brot- und Kuchentheke ist das Kaffeehaus eindeutig das Zentrum der Aufmerksamkeit; allerdings ist es recht laut und die Atmosphäre eher unterkühlt.
Heiter bis gedämpft
Die angrenzende Bar schlägt mit niedriger Decke, schwarzen 404-Barhockern und einem Tresen aus grünem Terrazzo wieder etwas gedämpftere Töne an. Aber ungemütlich am Übergang von Kaffeehaus, Restaurant und Orangerie gelegen, kann die kleine Bar kaum mehr sein als eine Wartezone für Gäste. Ganz am Ende der Reihe schließlich liegt das Restaurant, das mit schwarzen Stühlen und Tischen aus der „404“-Familie, einer roten Lederbank und indirekter Beleuchtung einerseits gemütlich erscheint. Aber der helle Terrazzoboden und die großen Spiegelflächen sprechen eine andere Sprache. Der angenehmste Raum ist die Orangerie, die mit weißen „404“-Möbeln und gläsernen Leuchtobjekten eine heitere Atmosphäre ausstrahlt, und in der man vom Trubel des großen Cafés am wenigsten mitbekommt.
Ein Wechselbad
Und so ist ein Besuch in der „Reitschule“ ein Wechselbad von heiß über kalt bis hin zu unterkühlt – richtig warm werden kann der Gast aber trotz des anspruchsvollen Gestaltungs- und Möblierungskonzepts eigentlich mit keinem der Bereiche. Vielleicht ist das Lokal schlicht zu groß und überfordert mit zu vielen verschiedenen Raumsituationen. Die Atmosphären vermischen sich, und zurück bleibt ein allenfalls lauer Eindruck; oder wie die Einheimischen es schulterzuckend formulieren würden: „Ja mei“.
FOTOGRAFIE Edward Beierele
Edward Beierele
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