Marseille-Provence 2013: Le Corbusier reloaded
Marseille ist dieses Jahr Kulturhauptstadt Europas. Dafür wurde in den letzten Jahren kräftig gebaut – mit Architekten wie Kengo Kuma, Foster + Partners, Boeri Studio und Rudy Ricciotti. Doch ein Stern strahlt heller als alle anderen: Le Corbusier. Seine Unité d’habitation im Süden der Stadt hat Architekturgeschichte geschrieben. Zum Kulturhauptstadt-Jahr hat Konstantin Grcic nun eines der Apartments verwandelt, Ora-Ïto die Turnhalle auf dem Dach zum Ausstellungsraum gemacht und Xavier Veilhan seine Skulpturen aufgestellt.
Die Kulisse für diese gestalterischen Interventionen ist beeindruckend. Unter einem Dach befinden sich in der Unité d’habitation 337 Wohnungen, ein Hotel, ein Restaurant und andere öffentliche Einrichtungen wie Swimmingpool, Kinderkrippe oder Bäckerladen. Längst ist sie aus einem Dämmerschlaf erwacht, denn die Kreativszene hat das Potenzial des Gebäudes für sich entdeckt.
Ideenfunken
Patrick Blauwart hat nichts mit Architektur oder Design zu tun. Er ist Schauspieler. Zusammen mit Jean-Marc Drut bewohnt er am Ende eines schummrigen Flurs ein Apartment im 5. Stock der Wohnmaschine aus den frühen Fünfzigern. Vor fünf Jahren hatte Patrick eine zündende Idee: Das doppelgeschossige, 98 Quadratmeter große Apartment – das auf der französischen Denkmalliste steht und als eine der wenigen Wohnungen des Komplexes nahezu komplett im Originalzustand erhalten ist – soll sich in regelmäßigen Abständen in ein Design-Schaukästchen verwandeln. Einen Sommermonat lang, jeweils eingerichtet von einem anderen Designer. Das ist schön, denn fast jeder Besucher der Cité Radieuse ist neugierig darauf, wie es wohl hinter den Betonwänden aussieht. Patrick fragte zuerst Jasper Morrison, ob er sich vorstellen könne, die Wohnung nach seinen eigenen Ideen umzugestalten. Der britische Designer konnte und eine Tradition war geboren: Jeweils von Mitte Juli bis Mitte August führen Patrick und Jean-Marc nun interessierte Besucher durch ihre Wohnung – zuletzt waren es 800, wie der Franzose erzählt. Die eigenen Möbel werden während der Umgestaltungsaktion übrigens im Keller gelagert, um Platz für das Neue zu schaffen.
Deutschland trifft Frankreich
Während Patrick und Jean-Marc mit Jasper Morrison den ersten Designer noch selbst ausgesucht hatten, sind es nun die Designer, die den jeweils nächsten Gestalter auswählen. Nach Morrison waren die französischen Bourroullec-Brüder an der Reihe, die sich anschließend Konstantin Grcic wünschten. Patrick war begeistert, als er die ersten Pläne des Deutschen sah. Dessen stringente Gestaltung im Farbklang Rot, Schwarz und Weiß habe ihn beeindruckt, sagt er. Was er meint, versteht man, wenn man das Apartment betritt: Grcics Arbeiten fügen sich in ihrer Strenge ein in Le Corbusiers Architektur und Interior – als wären sie schon immer hier gewesen.
Im obersten Geschoss des App. No. 50 befindet sich die offene, noch original erhaltene Küche – ein Entwurf von Charlotte Perriand und Le Corbusier – sowie ein runder Tisch, der um die Drehstühle 360° (Magis) ergänzt ist. Der Blick geht von der Empore mit der Leuchte Mayday von Flos auf den unteren Raum, der als Wohnzimmer genutzt wird. Beeindruckend sind nicht nur die lichte Raumhöhe und das riesige Fenster, sondern auch der vorgelagerte Balkon. Hier schützt eine Sonnenstore vor der flirrenden Hitze des Südens, während man auf dem Chair One Cone (Magis) sitzt. Ebenso stringent sind die zwei kleineren Zimmer neben dem Wohnzimmer gestaltet. Im Schlafzimmer thront der Stuhl Myto von Plank vor dem Schreibtisch, im Nebenraum der langgestreckte Tisch Pallas von Classicon, der schön korrespondiert mit der Schmalheit des Zimmers. Hier ist alles so beengt, dass man sich fühlt wie auf einem Schiff. Die niedrige Deckenhöhe, die Enge der Zimmer, die separate Dusche und die Einbauschränke lassen an eine Kajüte denken. Es überrascht also nicht zu hören, dass Le Corbusier Ozeandampfer liebte.
Dachgestaltung der besonderen Art
Wie ein Ozeandampfer mutet von oben gesehen auch die öffentlich zugängliche Dachterrasse der Unité d‘habitation an und zwar wegen der verschieden hohen, skulpturalen Elemente. Hier oben gibt es nicht nur ein Atelier und einen flachen Pool für Kinder samt betonierten Sitzgelegenheiten. Der französische Designer Ora-Ïto hat die ehemalige, 150 Quadratmeter große Turnhalle auf der westlichen Seite des Dachs gekauft, originalgetreu restauriert und mit Marseille Modulor (MAMO) daraus eine Ausstellungshalle mit angeschlossenem Café gemacht.
Noch bis September werden Halle und großflächige Dachlandschaft mit den Skulpturen des französischen Bildhauers Xaver Veilhan bespielt. Seit 2012 entwickelt er Architectones – eine Serie von künstlerischen Interventionen in Hauptwerken der modernen Architektur wie den Gebäuden von Pierre Koenig und Richard Neutra in Los Angeles. Seine Installationen in Marseille sind das vierte Projekt dieser Reihe. Le Corbusier taucht hier gleich dreimal auf: Im Inneren der ehemaligen Turnhalle als futuristisch anmutende Skulptur aus Aluminium (Le Mobile, 2013), als hellblaue, überlebensgroße Büste (Le Corbusier, 2013) vor der Halle und nicht weit davon entfernt auf einer Bronzeskulptur (Le Corbusier, Jeanneret et Buckminster Fuller, 2013), die in eine monumentale Holzbox (Le Monument, 2013) eingelassen ist. Darauf ist zu sehen, wie der Architektur-Großmeister zusammen mit seinem Bruder Pierre Jeanneret in die Tretboot-Pedale tritt, während Buckminster Fuller auf einem Katamaran die Segel setzt. Da passt es gut, dass man von hier oben einen wunderbaren Blick aufs azurblaue Mittelmeer hat.
Das Ewige und das Ephemere
Die Cité Radieuse ist immer eine Reise wert. Doch dieses Jahr könnte der ikonische Bau lebendiger nicht sein. Zu verdanken ist dies den temporären Interventionen von Konstantin Grcic und Xavier Veilhan. Die unterkühlten Möbel des deutschen Designers und die raumgreifenden Skulpturen des französischen Künstlers ergänzen die Architektur aus den Fünfzigern um ein zeitgenössisches Element. Dass sie einander nicht aneinander reiben, sondern kongenial ergänzen, zeigt ihre außerordentliche Qualität. Architektur, Interior und Kunst werden eins.
Praktische Informationen
Unité d’habitation/ Cité Radieuse
280, Boulevard Michelet
13008 Marseille
Marseille Modulor (MAMO)
Centre d'art de la Cité Radieuse
Ausstellung Architectones von Xavier Veilhan
bis 30. September 2013
Mittwoch bis Sonntag, 11 bis 18 Uhr
Appt. No. 50
Design: Konstantin Grcic
bis 15. August 2013
14 bis 18 Uhr (Führung mit den Hausherren)
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