Mit dem Kuckuck im Kokon
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Der Kuckuck hatte schon einen Platz auf der roten Liste der Alltagsobjekte. Es waren die letzten seiner Art, die eine abgeschiedene Existenz in Omas Stuben fristeten. Jetzt aber darf er wieder stündlich aus der Uhr federn, und das sogar in großstädtischen Wohnzimmern. Und – er kommt nicht allein. Das Panorama vor seinem Häuschen könnte durchaus Stickkissen, geschreinerte Kommoden, Korbstühle oder ethnologisches Kunsthandwerk bieten. Traditionelles und Individuelles hat sich eine Nische in unseren Herzen und Wohnungen erobert, wo es – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der industriellen Formgestaltung – in friedlicher Koexistenz mit dem Design besteht. Doch wie zum Kuckuck ist das passiert?
Um zu verstehen, was los ist, lohnt sich ein Blick auf die Vergangenheit der Profession. Das letzte Jahrhundert Designgeschichte (und damit wäre sie ja fast schon abgehandelt) wurde immer wieder von Protestbewegungen heimgesucht. Schon die Geburtsstunde des Designs war ein Umsturz. Die industrielle Revolution lieferte Produktwelten vom Fließband und läutete so ein neues Zeitalter der Objektgestaltung ein. Die Form massenproduzierter Waren orientierte sich nicht mehr länger an dem, was die Hände des Einzelnen mit Werkzeugen zu leisten vermochten, sondern daran, was die Maschinen effizient umsetzen konnten. Das Ornament wurde Verbrechen, und nach einigen Irritationen, die sich unter anderem in stilisierten Fruchtdekors auf den Maschinen äußerten, kehrte fernab des Handwerks für einige Zeit funktionale Ruhe ein.
Handwerk oder Maschinenwerk
Während die teilweise individuell angefertigten Produkte in früheren Zeiten direkt aus der Hand des Handwerkers in die Hand des Käufers übergingen, waren nun viele Personen am Herstellungsprozess beteiligt. Ingenieur, Designer, Fabrikarbeiter und Vertrieb sorgten gemeinsam für genormte und günstige Erzeugnisse. In der Folgezeit gegründete Institutionen wie der Werkbund, das Bauhaus oder die Ulmer Hochschule für Gestaltung stehen bis heute für eine Zeit, die von Reduktion, Geometrie, Sachlichkeit und strenger Formensprache bestimmt war. Diesen Paradigmen der Gestaltung konnten sich Gestalter nur schwer entziehen – oder sie taten es bewusst.
In den 1980ern hatten einige genug von der festgefahrenen Vorstellung industrieller Formgebung und verweigerten sich, etwa das Neue Deutsche Design oder italienische Gruppierungen wie Memphis. Die Dingwelt hatte sich in ihren Augen lange genug der Maschinenherrschaft untergeordnet. Die Renegaten setzten auf andere Werte, auf individuelle Objekte statt massenkompatiblen Einheitsbrei. Dass viele der Memphis-Entwürfe mit ihrem radikalen Ansatz weit übers Ziel hinausschossen, war wohl vor dem revolutionären Furor geschuldet. Ein Wandel will schließlich lautstark kommuniziert werden. Den gleichberechtigten Platz neben dem Design konnte sich das (Kunst)Handwerk mit dieser Strategie allerdings noch nicht erobern. Nach einigen Jahren des Aufbegehrens kehrte es in seine angestammte Statistenrolle im Designtheater zurück.
The New Memphis?
Mit dem neuen Jahrtausend hat sich einiges verändert. Die Revolution des Handgemachten kam aber nicht wie Memphis mit dem kunterbunten Holzhammer um die Ecke, sondern hat sich angepirscht. Wieder sind die Konsumenten satt. Unsere hochtechnologischen Werkzeuge erzeugen perfekt glatte Oberflächen, stoßfest, kratzfest. Uniforme Produkte wie iPhone oder Tablet-Computer, die zum Werkzeug für Jedermann geworden sind, wohnen als einer von Millionen Klonen in unseren Taschen. Von dort aus dienen sie uns nicht nur, sondern jagen uns, füttern uns mit Reizen und informieren uns über Wirtschafts- und andere Krisen. Den Wohnraum nehmen wir als einen unsere letzten Rückzugsorte wahr, als Schutzbunker vor der Welt.
Während der fragmentierte Möbel-Punk der 1980er die Wohnstuben auf den Kopf stellte und damit die gängigen Normen der Außenwelt, ist das vorrangige Ziel dieser Tage, das Chaos und die Unsicherheiten von den eigenen vier Wänden fernzuhalten. Wenn im Fernsehen die nächste Katastrophen-Meldung kommt, möchten wir es auf dem Sofa wenigstens schön flauschig haben. Die Sehnsucht führt uns in das Schwarzwaldhäuschen, in dem pünktlich zum sechsten Kuckucksruf das Abendessen auf den Tisch kommt. Wir sehnen uns nach Konstanten in einer flexiblen Welt. Nach Verlässlichkeit, Qualität, Geselligkeit, Freundschaft, Werten jenseits des Materiellen. All das erfüllen handwerklich hergestellte Unikate. Sie sind mit Hingabe und Können gefertigt, erfüllen in der Regel hohe Qualitätsansprüche, kommen vielleicht vom Schreiner in der Nachbarschaft und sind im besten Fall noch ein Geschenk, von Freunden für uns ausgesucht.
Handwerk, geschüttelt und gerührt
Wir hatten uns von der Arbeit unserer eigenen Hände entfremdet. Der von der Tante selbst gestrickte Pullover aus grober Wolle landete mit seinen kleinen Fehlmaschen weit unten im Schrank. Die Tante wurde belächelt: Sie hing noch an den alten Zeiten. Doch jetzt hätten die Menschen das ein oder andere aus diesen Zeiten gerne zurück. Nach Jahren des hemmungslosen Konsums entdecken sie den eigentlichen Wert der selbst produzierten Dinge: die investierte Zeit, die Einzigartigkeit – und eben auch die kleinen Fehler, die Geschichten aus der Herstellung erzählen. Stricken, Häkeln, Buchbinden, Drechseln oder Korbflechten interessiert generationsübergreifend. Und auch Designer sehen im Handgemachten keinen Gegenspieler mehr. Für sie ist es eine weitere Gestaltungskomponente, mit der sie ganz ungezwungen umgehen.
Das Schöne daran: Handwerk und Design existieren neuerdings nicht nur friedvoll nebeneinander, sondern machen gemeinsame gute Sache. Industrielle Halbzeuge, innovative Materialien oder Produktkomponenten werden für eine handwerkliche Weiterverarbeitung genutzt. Dadurch entsteht Neues aus Altbekanntem, wie bei Sebastian Herkner, der sich für Moroso mit der Flechtkunst beschäftigte. Statt eines Rattanskelettes aber wählte er bunte Metallgerüste, die auch nur partiell umflochten wurden, und befreite so den traditionellen Wäschekorb von seinem angestaubten Image. Oder die schier unerschöpflichen Qualitäten des Handwerks der traditionellen Kulturen: vom heimischen Kuckucksschnitzer über die asiatischen Bergdörfer bis zur afrikanischen Dorfgemeinschaft. Die Designer von Glimpt beispielsweise besuchten vietnamesische Seegrasflechter und entwarfen mit neuen Materialien eine Hockerserie oder ließen von südafrikanischen Schreinern Leuchten fertigen – aufbauend auf den jahrhundertealten Verfahren. Eine Kooperation kann für beide Seiten ein Gewinn sein, die Gestalter erschließen neue Potenziale und die Handwerker neue Absatzmärkte und ein zusätzliches Einkommen.
Weil das Handwerk vielerorts ebenso wie der Kuckuck vom Aussterben bedroht ist, können solche Modifikationen Kulturschutz sein. Wobei: Handwerk ist kein ernstes Thema (mehr), sondern lebt vor allem von der spielerischen Komponente. Lucas Maassen, Vater und Gestalter, gründete die Lucas Maassen & Sons Furniture Factory und ließ sich von seinen kleinen Söhnen grobe Holzmöbel anpinseln. So hoch die Ärmchen eben reichten. Und dieses Ergebnis lässt sich mit keiner Maschine der Welt nachproduzieren.
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