Stories

Stuhlgeschichten

von Tanja Pabelick, 02.05.2011


Ein Stuhl ist ein Stuhl? Keine Frage, aber eines der wichtigsten Objekte unserer Kultur hat einiges mehr zu sagen. Dem, der hinschaut, erzählt jeder Stuhl seine ganz eigene Geschichte. Etwa, ob auf ihm ein Minister thront oder eine Sekretärin schuftet. Als Zeitzeuge hingegen ist er ein Geschmacksindiz seiner Epoche und lässt dann von den vielen Menschen ahnen, die auf ihm schon gesessen haben mögen. Und vor allem: Seine Silhouette erzählt davon, wie er entworfen, entwickelt und produziert wurde. Und weil jeder von uns mindestens einen und viele sogar ein Dutzend besitzen, hat wohl auch fast jeder Designer schon einen gestaltet. Stühle sind omnipräsent – und deswegen vielleicht das Experimentierfeld, in dem Neues erprobt wird. Wer also etwas über innovative Materialien oder neue technologische Möglichkeiten erfahren will, der sollte sich die aktuellen Protagonisten genauer anschauen. Wir erzählen kurze und ganz frische Geschichten von den neuen Talenten unter den Sitzmöbeln.



Stühle heben uns in eine Ruhehaltung zwischen Liegen und Stehen und sind damit im Alltag unverzichtbar. Die meisten von uns verbringen mehr Zeit auf ihnen als auf ihren eigenen zwei Beinen oder im Bett. Deswegen steckt in ihrer Entwicklung viel Liebe zum Detail und ein oft jahrelanger Prozess, in dem die Ergonomie verbessert wird und der die Materialien und ihre industrielle Verarbeitung an ihre Grenzen bringt. Davon kann auch Nils Holger Moormann erzählen. In Mailand präsentierte er im April während des diesjährigen Salone del Mobile einen Stuhl, den man im Januar auch schon in Köln entdecken konnte – allerdings noch am Stand von Harry Thaler. Mit seinem Pressed Chair gewann der junge Designer damals den Nachwuchspreis der „imm talents“. Aus einem einzigen Stück Blech ist der Stuhl gestanzt, stabilisiert wird er durch ein eingepresstes Relief. Damals war er noch ein Prototyp, vom Designer in kleiner Auflage selbst gefertigt und beim Probesitzen etwas nachgiebiger als der Bequemlichkeit zuträglich. Jetzt wird der Stuhl bei Moormann zur Produktionsreife gebracht. Das heißt für Hersteller und Designer vor allem eines: Feilen am Detail. Die Dicke des Bleches, die Tiefe des Reliefs, der Biegegrad der Beine und der Lehne müssen exakt so eingestellt sein, dass der Stuhl stabil steht und genau im richtigen Maße nachgibt. Bis es soweit ist, verlassen viele Versuchsmodelle die Maschinen: Man rechnet derzeit mit einer Nullserie im Herbst. Wer sich wie Moormann bei der Produktion auf neues Terrain wagt und Revolutionäres versucht, geht eben immer auch ein Wagnis ein. Zwar entstehen erst durch innovative Werkstoffe und Verarbeitungsweisen ganz neue Funktionen – die Dauer bis zur Serienreife ist aber nur schwer zu prognostizieren.

Grenzen neu stecken oder gleich sprengen

Bei Wilkhahn lässt sich das Ergebnis eines solch langen Prozesses bereits „besitzen“. Knapp fünf Jahre hat der Hersteller gemeinsam mit Stefan Diez investiert. Nicht nur in die Entwicklung eines einzigen Stuhles, sondern auch in eine in diesem Sektor völlig neue Produktionsweise und damit auch in die Zukunft des Möbelbaus. Das Ergebnis heißt Chassis und spielt damit auf das Herstellungsverfahren an. Sitz- und Rückenrahmen sind aus Stahl und einem Stück, ebenso die vier Beine, die mit dem Rahmen verschweißt sind. Dennoch wiegt der Stuhl nur 5,4 Kilogramm. Das liegt daran, dass der Stuhl im Grunde ein Hohlkörper bleibt, gefertigt in der sogenannten Space-Frame-Technologie, die ursprünglich für den Fahrzeugbau entwickelt wurde. Dünnes, hochfestes Stahlblech wird tiefgezogen und sorgt dafür, dass das Gestell, anders als bei alternativen Fertigungsverfahren wie Spritz- oder Druckguss, elastisch bleibt und gleichzeitig belastbar ist.

Aus dem Vollen schöpfen, stille Reserven nutzen


Szenenwechsel, ebenfalls Mailand, in einer Ausstellungshalle der Messe-Nebenveranstaltung im Stadtteil Ventura Lambrate: Ein Stuhl, dessen Form eine Chimäre aus dem Gartenklassiker Monoblock und dem Designklassiker Panton Chair scheint – elegant, dynamisch, aber ökologisch. Die Oberfläche erinnert an Filz, der sich als dreidimensionaler Körper in den Raum erhebt, die Farbe ein wenig an Naturwolle. In der Ausstellung „Poetry Happens“ präsentierte Werner Aisslinger seinen Hemp Chair, den er in Zusammenarbeit mit BASF entwickelt hat. Man mag sich kaum darauf setzen, so zerbrechlich wirkt das Material, so leicht ist der Stuhl. Tatsächlich aber ist der Korpus aus Hanf hochstabil. Zu 70 Prozent besteht er aus natürlichen Fasern, die durch Zugabe von Acrodur, einem wasserbasierten Acrylharz, versteift werden. Anders als bei anderem Harz entstehen beim Aushärten keine giftigen Substanzen wie Phenol oder Formaldehyd, sondern lediglich Wasser. Damit wird Werner Aisslinger einem Anliegen vieler Konsumenten gerecht, die nicht nur langlebige und gut gestaltete Möbel wünschen, sondern bei  ihrer Kaufentscheidungen auch Wert auf Faktoren wie die Umweltfreundlichkeit eines Produktes legen. Bei deren Realisierung ist der Designer nicht mehr nur Formgestalter, sondern auch Prozessentwickler und Materialforscher, der Hand in Hand mit der Industrie arbeitet. Und manches Mal ist er vielleicht sogar derjenige, der mit kleinen Tricks die Nachhaltigkeit an den Mann bringt. Bei den Designern von Casamania war ein Stuhl zu entdecken, der einen ähnlichen Ansatz verfolgt: Alte, aber noch geliebte Kleidungsstücke werden in Harz getränkt und zu Stühlen zusammengefügt – so können die Lieblingsstücke noch besessen werden, ohne getragen zu werden.

Seite an Seite mit der Natur

Mit neuen Materialien können heute superschlanke Silhouetten entstehen, Stühle, die nicht mehr wiegen als ein Kissen. Sie passen sich dem Körper an, geben ihm nach oder lassen sich gezielt verformen wie der Memory Chair von Moroso. Einige sind gut für die Umwelt: Gefertigt aus Recycling-Stoffen oder aus nachhaltigen Materialien wie bei Aisslingers Hemp Chair erinnern sie in ihrer Oberflächenstruktur an einen Eierkarton, um dann so stabil zu sein wie die Kollegen aus Kunststoff. Andere orientieren sich direkt an der Umwelt: Ihre Materialien imitieren Strukturen oder Oberflächen aus der Natur, auch bekannt unter Begriffen wie Bionik oder Biomimicry, und bleiben dank Nano-Oberflächen immer sauber oder reinigen sogar die Luft. Bei Danese Milano gibt es mit der Green Collection Outdoor-Möbel, die sich quasi selber putzen. Sie basieren auf einem chemischen Prozess namens Photokatalyse, der bereits in den 1960er Jahren in Japan entdeckt wurde. Durch die Sonneneinstrahlung zerfallen Fett und Staub in Wasser, Kohlendioxid und ein paar Salze. Die Titanverbindung, die dafür sorgt, lässt sich einfach in Lacke einbinden, auf nahezu jede Oberfläche aufbringen und verhindert schlechte Gerüche.
 
Stühle maßgeschneidert

Nicht nur in ihrer Arbeitsweise ist die Natur Inspirationsgeber: Einen Ausblick auf das, was eines Tages möglich wird, gibt das e-Manufacturing. Durch die Fertigung auf Basis elektronischer Daten sind heute Formen möglich, die noch vor Jahren nicht denkbar gewesen wären. Hinterschneidungen und Verzweigungen, die jeder Spritzguss bisher ausgeschlossen hat, individualisierte Einzelstücke, die jeden Schreiner zur Verzweiflung brächten. Noch steckt die Technologie in den Kinderschuhen, sind die Fabrikate von Verfahren wie dem 3-D-Drucken für den Endverbraucher nicht zu bezahlen. Joris Laarman vollzog mit seinem Bonechair bereits vor Jahren das natürliche Knochenwachstum der Natur nach, Front Design zeichnete digitale Stühle und Leuchten in den Raum, die sich als dreidimensionale Skizze im Laser-Sinter-Verfahren in die Realität holen lassen. In Mailand präsentierte Droog dieses Jahr mit „design for download“ eine Online-Plattform, auf der Möbel individualisiert werden können. Gemäß den eigenen Bedürfnissen können dabei Tische oder Regale auf den Nutzer angepasst und vom Schreiner um die Ecke realisiert werden. Und sie lassen ahnen, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die individuellen, eigenen Körpermaße zum Maßstab für unsere Sitzmöbel werden.

Mehr Beiträge zu unserem Schwerpunkt Material lesen Sie hier .

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Links

Wilkhahn

www.wilkhahn.de

interzum

www.interzum.de

innovation of interior

www.innovation-of-interior.de

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