Design als Geschichtenerzähler
Ein Gespräch mit Michele De Lucchi in Südtirol
Nächstes Jahr wird er 70 Jahre alt, zugleich feiert Memphis seinen 40. Geburtstag. Anlass genug, um mit Michele De Lucchi auf sein (Gestalter-)Leben zurückzublicken und ihn zu fragen, was er noch alles vorhat. Ein Treffen in den Südtiroler Bergen auf 1.600 Metern Höhe.
Eine Welt der Gestaltung ohne Michele De Lucchi? Unmöglich! Seit über 40 Jahren prägt der Italiener die Architektur und das Design. Einige seiner Entwürfe haben sich in das kollektive visuelle Gedächtnis eingebrannt, darunter die Alu-Leuchte Tolomeo von Artemide. Der 69-Jährige ist zurückhaltend, wissbegierig und reflektiert. Man merkt ihm nicht an, dass er Designgeschichte geschrieben hat, denn mit Alchimia und Memphis war er Mitbegründer zweier bedeutender Designbewegungen des 20. Jahrhunderts.
Michele De Lucchi, 1951 in Ferrara geboren, studierte Architektur in Florenz und betreibt in Mailand das multidisziplinäre Studio AMDL Circle. Er arbeitet für Möbel- und Leuchtenhersteller wie Alessi, Artemide, Hermès, UniFor und Alias und findet, „dass Design Geschichten erzählen soll“. Als Art Director prägte De Lucchi von 1988 bis 2002 die visuelle Sprache von Olivetti – entwarf Computer und Tintenstrahldrucker – und war für das Corporate Design von Unternehmen wie Piaggio, Poste Italiane, Telecom Italia, Enel und Deutsche Bahn verantwortlich. Neben industriell geprägten Entwürfen wird das Werk des italienischen Designers von Arbeiten bestimmt, die um die Themen Material und Handwerk kreisen, was zur Gründung eines eigenen Labels führte: Produzione Privata. Hier bringt er teils limitierte Editionen von Objekten aus Holz, Porzellan und Glas heraus, die in Zusammenarbeit mit italienischen Manufakturen und Handwerkern entstehen. De Lucchi arbeitet auch als Architekt und entwirft Brücken, Headquarter, Fabrikgebäude, Hotels und Ausstellungen. Dabei steht das nachhaltige Bauen im Fokus seines Interesses, was sich an seinem Konzept Earth Stations zeigt, das neue Typologien von Gebäuden beinhaltet, ebenso wie an seinem aktuellen Projekt, einem Hotel aus Holz in der georgischen Stadt Telawi.
Nächstes Jahr ist es 40 Jahre her, dass Sie zusammen mit Ettore Sottsass und anderen Gestaltern Memphis gegründet haben. Heute boomt das Design der Achtzigerjahre wieder. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an diese Zeit denken?
Mich verband eine sehr enge Freundschaft mit Ettore Sottsass. Deshalb war ich sehr glücklich, Teil des Memphis-Teams zu sein. Mit 29 Jahren war ich sehr jung und hatte das Glück, mit einem der besten Architekten und Designer der Welt zusammenzuarbeiten, der schon damals sehr berühmt war. Das war toll! Ich fand auch, dass es etwas Neues im Design geben müsse. Es ging um das Experimentieren mit neuen Formen, Farben und Materialien – was übrigens auch die Persönlichkeit von Ettore Sottsass widerspiegelte. Für mich war Memphis eine intellektuelle Provokation, aber auch eine sehr persönliche Geschichte.
Es scheint mir, als wenn es heute weniger Designer gibt, die provozieren. Im Gegenteil: Viele Entwürfe wirken wie weichgespült, dem Mainstream angepasst. Was denken Sie?
Es gibt immer noch sehr viele Provokationen, aber die sind meist nicht sehr tiefsinnig. Außerdem sind wir inzwischen alle daran gewöhnt, ständig provoziert zu werden. (lacht)
Was könnte denn heute noch provozieren in Architektur und Design?
Wenn ich rustikale Architektur entwerfen würde, dann wären alle entsetzt. Aber auch meine Idee der Earth Stations ist in gewisser Weise eine Provokation. Dabei geht es um eine neue Typologie von Gebäuden, die durch die Berücksichtigung von humanistischem und technologischem Wissen unser Leben verbessern kann – im Einklang mit Natur und Gesellschaft.
Natur und Nachhaltigkeit sind wichtige Themen für Sie. Wir sitzen hier in der Bar des Hotels Zirmerhof in Radein in Südtirol. Gleich gegenüber des Bestandsgebäudes haben Sie die Häuser der Wiese gebaut: zwei Niedrigenergiehäuser mit insgesamt sechs Suiten. Die Architektur, das Interior und die Möbel wurden allesamt von Ihnen entworfen – und sind komplett aus Holz, das aus einem nahegelegenen Wald stammt, von Handwerkern vor Ort gefertigt. Was bedeutet Ihnen der Werkstoff Holz?
Ganz allgemein ist für mich das Material Holz die Brücke zwischen dem Menschen und der Natur. Beim Projekt in Radein wird die alte Philosophie des Zirmerhofs aufgegriffen, wobei jedes Detail Aufmerksamkeit und Sorgfalt verdient. So findet der Geist Ruhe und wird durch nichts gestört – wohin auch immer man schaut. In den Suiten gibt es verschiedene Möbel aus Holz, darunter viele Tische. Sie haben unterschiedliche Formen, manchmal sind sie multifunktional und können auch als Hocker benutzt werden. Insgesamt betrachten wir die Möbel sehr spielerisch.
Apropos Holz: Sie fertigen wunderbare, architektonisch abstrakte Objekte aus Holz, zeichnen sehr viel und stellen Ihre Werke auch aus. Wie sind Sie zur Kunst gekommen?
Ursprünglich hat es damit angefangen, dass ich mit Holz gearbeitet habe. Mich interessiert das Ineinandergreifen von Material und Handwerk. Schon bei Memphis war ich für den Prototypenbau verantwortlich. In meiner Werkstatt zuhause arbeite ich auch gern mit der Kettensäge. (lacht)
Wo bewahren Sie eigentlich Ihre Zeichnungen, Skizzen und Prototypen auf? Muss ich mir Ihr Haus als eine Art privates Designmuseum vorstellen?
Nein. (lacht) Ich habe fast sämtliche Arbeiten dem Centre Georges Pompidou in Paris überlassen. Zuhause umgebe ich mich mit Werken von Freunden wie Ettore Sottsass.
Hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit verändert?
Ich wohne am Lago Maggiore und habe dort auch ein Studio. Ich genieße es sehr, dass ich nicht mehr jeden Tag nach Mailand fahren muss, sondern von zu Hause arbeiten kann. Mit meinen Studenten kommuniziere ich über das Internet.
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