Ihrer Zeit voraus
Wegweisende Produkte aus den letzten zwei Jahrzehnten
Die Dinge verändern sich. Doch meistens bemerkt man die großen Sprünge erst mit zeitlichem Abstand. Welche Entwürfe haben Impulse für eine ganze Branche gesetzt? Wer hat den Zeitgeist besonders präzise eingefangen? Und welche Produkte sind bis heute so aktuell wie im Moment ihrer Entstehung?
Innovation kann auf unterschiedlichen Ebenen geschehen: in der Formgebung oder in der Materialität. Aber ebenso im Gebrauch, indem beispielsweise bisher getrennte Produktgruppen verschmolzen werden. Die Königsklasse liegt in der Gründung einer neuen Typologie: Wenn ein Produkt so stark den Markt durchdringt, dass andere Hersteller – ob sie wollen oder nicht – auf diesen Trend aufspringen müssen, um keine Anteile an die Konkurrenz zu verlieren. Wir haben wegweisende Produkte der letzten beiden Dekaden unter die Lupe genommen.
Die Neuerfindung des Sofas
Auch wenn Möbel die Beweglichkeit im Namen tragen: Vor allem Sofas hatten lange Zeit ein eher träges, starres Erscheinungsbild. Eine Ode an die Mobilität schuf der Mailänder Designer Francesco Binfaré im Jahr 2000 mit Flap für Edra. Das Sofa verfügt über neun biegsame Flächen, die entweder als Rücken- oder Armlehnen dienen und in sechs verschiedenen Höhenstufen justiert werden können.
Seiner Zeit voraus war auch das Sofa Groundpiece von Flexform. Das von Antonio Citterio 2001 entworfene Möbelstück hat nicht nur eine lässige Sitztiefe von 90 Zentimetern eingebracht, wodurch sich die Haltung vom aufrechten Sitzen zum entspannten Lümmeln verschob. Die gepolsterten Armlehnen werden außerdem von seitlichen Regalen eingefasst, die zum Ablegen von Büchern, Zeitschriften und anderen Dingen dienen. Beide Prinzipien, das flache, tiefe Sitzen sowie die Verschmelzung von Sitz- und Aufbewahrungsmöbel, sind in den darauffolgenden Jahren zum neuen Standard geworden.
Einen ebenfalls richtungsweisenden Entwurf haben Ronan und Erwan Bouroullec mit dem Sofa Alcove 2006 für Vitra umgesetzt. Mit seiner hohen Rückenlehne, die das Möbel auch an den Seitenflächen umschließt, definiert es eine schallschluckende Ruheinsel inmitten wuseliger Büroetagen. Auch dieses Sofa hat eine eigene Typologie begründet, die heute jeder Hersteller von Büromöbeln in ähnlicher Form im Sortiment führt.
Neue Kunststoffe
Den ersten Stuhl aus transparentem Polycarbonat hat Philippe Starck 1999 mit La Marie für Kartell ersonnen. Der kommerzielle Durchbruch geschah jedoch mit einem anderen Modell: dem ebenfalls von Starck entworfenen Louis Ghost von 2001, der die Form barocker Armlehnenstühle aufgreift und sie zugleich mit seiner immateriellen Erscheinung vom Staub der Vergangenheit befreit. Über 2,5 Millionen Exemplare wurden in den letzten zwei Jahrzehnten verkauft – mehr als von jedem anderen Stuhl eines designrelevanten Herstellers.
Eine im Möbelbereich überaus ungewöhnliche Materialität hat Werner Aisslinger mit der Sitzmöbelkollektion Soft Cell 1999 für Zanotta eingebracht, bei der die wabenförmigen Sitzpolster aus weichem Polyurethangel gefertigt wurden, das zuvor für Fahrradsattel verwendet wurde oder im Medizinbereich zum Einsatz kam. „Leider war das Material nicht lichtecht, obwohl der Hersteller es gesagt hatte. Und so haben sich die Möbel verfärbt, weswegen es zu Reklamationen kam und schließlich die Produktion eingestellt wurde“, erinnert sich Werner Aisslinger. Einen Neustart erlebte der Entwurf 2001 als Gel Chair für Cappellini, bei dem ein innenliegendes Metallgitter an der Ober- und Unterseite von weichen Gelpaneelen wie ein Sandwich eingefasst wird.
Neue Wege im Möbelbau ging auch der 2008 von Konstantin Grcic gestaltete Freischwinger Myto für Plank mit dem leichtfließenden Ultradur-Kunststoff von BASF. Dieser gelangt in feine Spritzgussformen hinein, sodass sich die netzartige Struktur von Sitzfläche und Rückenlehne in einem Stück produzieren lässt. Indem sich das Kufengestell nach hinten verjüngt, wird die bereits im Bauhaus etablierte Freischwingertypologie um eine neue Eigenschaft erweitert: Sie kann nun gestapelt werden.
Biobasierte Kunststoffe
Auch die Zusammensetzung von Kunststoffen hat sich seit dem Jahr 2000 grundlegend verändert. Anstelle von Erdöl kommen immer häufiger biobasierte Zutaten zum Einsatz. In Zusammenarbeit mit BASF hat Werner Aisslinger 2011 seinen Hemp Chair für Moroso entwickelt. Der voluminöse Sessel ist der erste Freischwinger aus biobasiertem Kunststoff, der in einem Stück gefertigt wurde. Das Material besteht zu 70 Prozent aus Hanf- und Kenaffasern, die mithilfe eines Acrylharzes auf Wasserbasis gebunden wurden. Der Stuhl Broom, den Philippe Starck für den US-amerikanischen Möbelhersteller Emeco ebenfalls im Jahr 2011 gestaltete, besteht zu 75 Prozent aus Polypropylenabfällen und zu 15 Prozent aus Holzfasern, die normalerweise in den Müll wandern würden. Die übrigen zehn Prozent entfallen auf ein Glasfaserbindemittel. 2017 hat Kartell den Bio Chair von Antonio Citterio vorgestellt, der vollständig aus dem pflanzenbasierten Kunststoff Biodura gefertigt wird und am Ende seines Lebenszyklus kompostiert werden kann.
Sparsames Metall
Dass Nachhaltigkeit bereits mit der Vermeidung von Abfällen beginnt, zeigt das aus dem Jahr 2008 stammende Stuhlprogramm Chassis von Stefan Diez für Wilkhahn. Produktionsverfahren aus dem Automobilbau wurden adaptiert und so verfügt das Möbel über einen stählernen Rahmen. Indem das tragende Gestell aus einem dünnen Blech mithilfe einer 300-Tonnen-Presse angefertigt wird, konnten Radien und Materialstärken erheblich reduziert werden. Die ohnehin nur geringen Schnittreste werden einer direkten Weiterverarbeitung zugeführt, sodass der reale Materialverbrauch auf ein Minimum reduziert wird. Die Folge: Der Stuhl ist äußerst stabil, langlebig und filigran zugleich und vermag sich flexibel an unterschiedlichste Anwendungen im Arbeits- und Wohnbereich anzupassen. Bereits über 80 Prozent der Stahlproduktion werden wiederverwertet, während Aluminium einen Anteil zwischen 60 und 70 Prozent erzielt. Ein Möbel, das mit einer hohen Recyclingquote von 80 Prozent punkten kann, ist der aus Aluminum gefertigte Parrish Chair von Konstantin Grcic. Das Möbel war ursprünglich für das von Herzog & de Meuron geplante Parrish Art Museum in New York bestimmt und wird seit 2013 von Emeco in Serie produziert.
Unerwartete Materialtransfers
Es muss nicht alles neu erfunden werden. Innovation zeigt sich auch darin, bestehende Materialien in einen neuen Kontext einzubinden. Konstantin Grcic hat 2003 seinen Chair One für Magis mit einem Sockel aus Beton ausgestattet, der die Offenheit der polygonalen Sitzschale aus Aluminiumdruckguss mit radikaler Schwere kontrastiert. Dass Beton selbst mit schwebenden Qualitäten aufwarten kann, beweist das italienische Designerduo LucidiPevere mit der Pendelleuchte Aplomb von 2010 für Foscarini, deren Schirm aus dem Lieblingsbaumaterial der Moderne gefertigt wird.
Mit den Beistelltischen aus der Cork Family von Vitra hat Jasper Morrison 2004 das bislang fast ausschließlich für Weinkorken genutzte Material in den Möbelbau übertragen. Einen ungewöhnlichen Transfer hat Sebastian Herkner mit seinem Bell Table 2012 für ClassiCon vollzogen, dessen Sockel von der Manufaktur Poschinger im Bayerischen Wald aus Glas gefertigt wird. Dem transparenten Werkstoff, der sonst im Möbelbau vor allem für Tischplatten oder Vitrinen zum Einsatz kommt, wird hier eine tragende Rolle zugestanden.
Neue Sinnlichkeit
Waren die Neunzigerjahre als Gegenantwort auf die wilde Memphis-Zeit von einer neuen Rationalität geprägt, durfte seit 2000 die Sinnlichkeit wieder eine größere Rolle spielen. Von poetischer Leichtigkeit ist der Raumteiler Algue, den Ronan und Erwan Bouroullec 2004 für Vitra gestaltet haben. Die von Algen inspirierten Kunststoffteile lassen sich zu dichten Vorhängen verbinden und frei im Raum einspannen. Der von Fernando und Humberto Campana 2005 entworfene Favela Chair für Edra wird aus winzigen Holzstücken in zufälliger Anordnung von Hand vernagelt, womit eine wohl kalkulierte Dosis Chaos in die heimischen vier Wände einzieht. Eine Rückkehr des Handwerks hat Patricia Urquiola mit den Outdoor-Möbelserien Canasta (2007) und Crinoline (2008) für B&B Italia beflügelt, deren geflochtene Rückenlehnen mit dekorativen Details aufwarten. Auf animalischen Pfaden bewegt sich der Sessel Roly Poly, 2018 von Faye Toogood für Driade entworfen, dessen vier Kunststofffüße derart voluminös ausfallen, dass sie an Elefanten oder andere Dickhäuter denken lassen.
Glamouröses Licht
Das Revival des opulenten Lüsters hat Ron Arad (in Kooperation mit Moritz Waldemeyer) 2004 mit dem Leuchter Lolita für Swarovski Crystal Palace forciert, bei dem SMS-Nachrichten durch LED-Lichter in einem spiralförmigen Kristallband abgespielt werden können. Die von Patricia Urquiola und Eliana Gerotto 2005 entworfene Leuchte Caboche für Foscarini wartet mit einem Schirm aus unzähligen Kunststoffperlen auf, die deutlich leichter und erschwinglicher sind als kristalline Leuchter und sogleich die Anmutung eines Schmuckobjektes in die Leuchtenbranche übertragen. Eine Verschlankung der Lüstertypologie ist Francisco Gomez Paz und Paolo Rizzatto 2009 mit Hope für Luceplan gelungen. Die Lichtquelle wird von eigens entwickelten Kunststoffblenden verhüllt, die der Bauart von Leuchtturmlinsen nachempfunden sind und nur ein Fünftel des Gewichts konventioneller Spritzgussteile auf die Waage bringen. Zwischen Opulenz und Hightech balanciert der Leuchter Raimond, den der Mathematiker Raimond Puts zusammen mit dem Designbüro OX-ID 2007 für Moooi entwarf. Hunderte LEDs sind in zwei Kugeln aus Edelstahlflechtwerk eingespannt, die als Leiter für den elektrischen Strom dienen.
Ikonische Formen
Ein neuer Klassiker ist der Barhocker Lem, den Tomoko und Shin Azumi im Jahr 2000 für La Palma gestaltet haben und der eine hölzerne Sitzfläche mit einem umlaufenden Metallbügel umfasst. Die Typologie des Holzstuhls hat Stefan Diez mit der Stuhlfamilie Houdini 2009 für e15 spürbar verschlankt. Das aus Schichtholz gefertigte Möbel überrascht mit filigranen Wandstärken, die dank eines Konstruktionsverfahrens aus dem Segelflugzeugbau die nötige Stabilität finden. Der Londoner Designer Michael Anastassiades begibt sich 2014 mit seiner Leuchtenserie IC Lights für Flos auf die Pfade des Bauhauses. Die kugelförmigen Schirme aus Milchglas ruhen auf auffallend dünnen Messing- oder Chromstäben, die leicht angewinkelt sind. Die Leuchten bringen damit nicht nur eine klare Geometrie ein, sondern ebenso ein kontrolliertes Ungleichgewicht: genau richtig, um aus der Fülle der jährlichen Neuheiten herauszustechen und dauerhaft in Erinnerung zu bleiben.
Dieser Artikel ist Teil des Dossiers: 2000-2020: 20 Jahre Interior & Design
Dossier 2000-2020
20 Jahre Interieur & Design